Lochistische Antiprosa 2014: "SPIRITUELLE DEMENZ - DAS GEHEIMNISLOSE GEHEIMNIS"

 

"Es ist, als wären wir selbst das Loch im Taschentuch; wir sehen die andere Ecke vom Taschentuch und denken, wie angenehm es doch wäre, unsere Leere mit ihr auszufüllen. So schneiden wir sie aus und füllen uns damit an, nur um herauszufinden, daß wir nun das neue Loch sind - der unsichtbare blinde Fleck im Universum. Der Trugschluß der Dualität."

Alan Watts, in: DIE SANFTE BEFREIUNG

(1939, DIE BEDEUTUNG DES GLÜCKS)

 

"Kein System kann langfristig Sicherheit erzeugen, jedoch Menschen, die bereit sind zuzuhören und nicht sofort mit fertigen Lösungen aufwarten, sondern nachfragen und genauer wissen wollen 'wo der Schuh drückt'. Solche Menschen, ob Führungskräfte oder Mitarbeiter, erzeugen ein Klima der Verbindlichkeit, des Engagements und damit des Zutrauens."
Heinz Mauch, in:
NOCH MEHR REICHT NICHT (2012)

 

"Ich möchte, dass ihr zugleich aber auch den Unsinn durchschaut, den die meisten esoterischen Wege produzieren, diese neue Art der Religiosität, die größtenteils kein bißchen intelligenter ist als die alte."
Wolf Schneider, in: FÜHREND IM AUFKLÄREN VON FÜHRUNG?

(connection spirit 11-12/2013)

 

 

Tom de Toys, 6.-19.9.2014

SPIRITUELLE DEMENZ - DAS GEHEIMNISLOSE GEHEIMNIS


Ich will ja nicht übertreiben, aber im grunde fing alles schon irgendwie vorher an. Ob ich es hätte verhindern können, ist mir bis heute nicht klar, aber das würde nichts ändern. Die geschichte lässt sich nicht rückgängig machen, ich HABE diese geschichte, ich BIN das ergebnis der verkettung aller ereignisse. Jetzt stehe ich da mit mir selbst und dem fragezeichen im kopf: was ist der nächste schritt? Oder ist etwa der glaube an "schritte" bereits ein bestandteil der lüge? Ist dieses voranschreiten ein selbstläufer, der nicht wirklich beeinflussbar seinen eigenen weg geht und nur nachträglich als LEBEN erkannt wird? Dann gibt es mich überhaupt nicht. Mein ich existiert nur als wort wie ein sammelbegriff für das gewesene und das vielleicht kommende. Aber jetzt, JETZT ist nur dieser atem, der atmet, und dieser hunger, der nahrung aufnimmt. Mehr passiert eigentlich nicht. Zwischendurch eine müdigkeit, die sich ausruht, und ein bedürfnis, das die toilette verrichtet. Das ich treibt von augenblick zu augenblick und versucht, das ticken der zeit zu überhören, das unüberhörbar den platz seiner identität eingenommen hat. Jeder luftzug erscheint mir als eingefrorener ozean, meine bewußtheit schneidet den wind in das gerade und gleich. Und dazwischen bewegt sich mein alter, beseelter körper, ohne sich als person zu empfinden. Das leben ist einfach in ein kostüm geschlüpft und hat diese rolle namens "mensch" auswendig gelernt. Keine besonders günstige voraussetzung, um ernsthaft zu bleiben. Ich vermisse den regisseur wirklich nicht im geringsten, aber ich würde den plot gerne verstehen: wozu ist das alles gut? Macht es sinn? Gibt es eine versteckte logik im ganzen? Ist es egal, was ich tue? Hat irgendwas eine bedeutung, die tiefer und weiter reicht als die sache selbst? Ich bezweifel es, denn ich verspüre das seltsame gefühl, daß das gesamte geschehen nur in sich selbst ruht und absolut keiner kontrolle von außen folgt. Jeder ist lediglich das, was er tatsächlich ist. Alle bewegen sich irgendwie auf dem spielfeld, die regeln ergeben sich durch den spontanen verlauf. Keiner hat das dahin plätschernde spiel erfunden, jeder spielt einfach nur mit. Auch die verweigerung ist eine figur mit einem bestimmten wert. Den wert null gibt es nicht. Wer geboren wurde, muß sterben. Dazwischen passiert leben. Das DASEIN. In städten. In bergen. An flüssen. Am strand. Auf dem land. Und zu wasser. Der ozean teilt die landmasse in kontinente. Der regen teilt die kontinente in klimazonen. Die klimazonen teilen die menschheit in sonnenanbeter und langschläfer. Wir führen unzählige kriege, wir vereinbaren frieden. Wir warten. Wir tun. Wir warten wieder. Wir tun etwas anderes. Wir überraschen uns. Und wir langweilen uns. Wenn ich nur einen einzigen nachbarn wie einen verwandten behandeln könnte, hätte ich schon das gefühl, daß wir als menschheit eine familie wären. Aber die meisten sind leider noch immer so eins mit der rolle, die ihnen das leben aufzwang, daß kein platz im bewußtsein für freie, total offene nähe, für echte begegnung vorhanden ist. Die paar wenigen hirnprozente, die überhaupt zum überleben benutzt werden, sind restlos mit der reality show ausgelastet. Die frage nach sinn oder dem ganzen ist tabuisiert und das spektakel der normalität hat die gesamte wahrnehmung hypnotisiert. Und TOTALELEKTRISIERT. Ich vermisse die menschen, deren subtile seelen nicht vom gemurmel der religionen absorbiert sind. Die menschen, deren privat subversive sehnsucht nicht von den angeboten der unterhaltungsindustrie assimiliert ist. Ja, jene, die sich nicht mit dem produzieren und konsumieren zufrieden geben sondern die globale zwanghaftigkeit überwinden und geistig im niemandsland des boykotts ihrer herzen auftauchen. Das niemandsland der verweigerer und versager. Der spirituellen anarchisten. Der menschen, die nicht mehr falsch spielen wollen. Die nicht mehr die kostbare lebenszeit mit den modernen beschäftigungstherapien verschwenden wollen. Die innehalten und stehenbleiben. Die sich ihre augen ausreiben und wundern, warum dieser quatsch immer weiter und weiter läuft wie das debile programm auf allen kanälen im fernsehen. Die wirklichkeit ist eine billige serie mit laiendarstellern, die noch vor ausbildungsende vor laufende kameras gezerrt werden und eins a funktionieren müssen. Vom präsidenten bis zum praktikanten sind alle nur funktionäre. So funktioniert die gesellschaft. So funktioniert die verdrängung. Wer aus dem konsumkoma aufwachen will, spürt den perversen druck des kollektivs. Wer die verbotene SINNFRAGE stellt, wird zum geächteten außenseiter. Die angst vor der leere, vor einsamkeit und der damit einhergehenden langeweile verhindert das grübeln. Wer laut grübelt, macht sich verdächtig, wird abgestempelt als spaßverderber. Manch einer heult abends zwar klammheimlich ins kopfkissen, doch quälen sich alle frühmorgens zur arbeit und funktionieren perfekt als kollegen. Wie lange soll dieser gigantische blöff eigentlich dauern? Beziehungsweise: wie lange darf er noch andauern, bevor plötzlich auf offener straße geheult wird? Demenz und depressionen bestimmen den alltag, doch hofft jeder, zumindest noch vorläufig verschont davon zu bleiben, um sauber und stark in den hafen der rente einzuschiffen. DURCHHALTEN heißt die morbide parole, obwohl nichts zum halten zu sehen ist. Unter den füßen nur bodenloser abgrund, die wände zu allen seiten aus pappe, die türen nur willkürlich in die landschaft drapiert, um das gefühl zu vermitteln, die räume von einem event zur nächsten sensation zu wechseln. Tapeten und zierpflanzen zur abwechslung, doch hält diese täuschung der betäubten sinne nicht lange vor. Tief im inneren ahnt jeder den fake, doch die rituale zur vertuschung sind gut einstudiert. Jeder hält durch, jeder hält sich an einer imaginären leitplanke fest, greift durch die leere und sucht irgendwo trost. Die gesamte struktur des spektakels der welt ist ein unendlicher hohlraum, das universum ist gar nichts dagegen! Wer heute schon aufwacht, wird einsamer als Friedrich Nietzsche. Die sogenannte "brave new world" von Aldous Huxley ist eine lustige kindersendung gemessen am realen status quo. Aber es muß ja irgendwie weitergehen, also wird alles gedeckelt und einige zocken die anderen ab. Ich könnte schreien! Den ganzen tag! Und die ganze nacht! Ich könnte verzweifeln vor lauter ohnmacht. Ich könnte ein buch schreiben. Verändern kann ich allerdings nichts. Es ist mein eigenes pech, völlig ratlos zu sein. Meine ratlosigkeit ist vielleicht ein noch nicht ausgeschöpftes potenzial, denn ich bin höchstwahrscheinlich in guter gesellschaft damit. Es ist eine ratlosigkeit oder hilflosigkeit, die selbstverständlich aus dem unkontrollierbaren jetzt folgt, das von meinem bewußtsein überhand nahm. Seitdem ich das ticken der zeit wie in zeitlupe höre, ist alles anders. Ich gehe MIT MIR durch die gegend, ich rede DURCH MICH zu den mitmenschen, ich treffe entscheidungen FÜR MICH wie für einen fremden, weil ich mir fremd geworden bin. Nicht nur mir selbst gegenüber sondern auch gegenüber den anderen menschen empfinde ich diese existenzielle fremdheit, als wären wir roboter, die von einer nichtexistenten schaltzentrale aus ferngesteuert sind. Ich beobachte die meinungen und die entscheidungen, die ich automatisch treffe, genau so wie ich die sätze vollautomatisch aufschreibe und dort pause mache, wo kein denken den nächsten satz denkt. Ich schreibe, solange das schreiben durch mich hindurch schreibt, und bleibe im schweigen, solange die stille andauert. In mir ist ein zentrum, das keinerlei wände und keinerlei fenster hat. Es ist gleichzeitig komplett isoliert und dabei doch ein zu allen seiten geöffneter bereich, der von leere durchflutet scheint. Diese flut ist ein reißender strom ohne wasser, ein ausgetrocknetes flussbett mit ohrenbetäubendem rauschen der trockenheit. Ich kann dieses zentrum nicht sehen, nicht fühlen, nicht denken, erstrecht nicht betreten. Und doch wohne ich in seiner mitte. Es scheint eine art tempel zu sein, der sich durch nichtsein charakterisiert. Es geht ein neutrales, eisiges schweigen von dieser zentrale aus, eine dunkelheit, die kein wort für die schwärze kennt, weil das schwarz, das wir kennen, vergleichsweise farbig ist. Aber das schwarz, das dort wohnt, in der mitte der wahrnehmung, ist wesentlich schwärzer als schwarz. Es ist irgendwie gänzlich farblos schwarz, in einer intensität, die man auch blendend weiß nennen könnte. Wie soll man ein zentrum beschreiben, das nicht existiert? Das sich nur als eine lücke im ganzen system darstellt? Sich zwischen den einzelnen informationen als übergreifendes informationsloch bemerkbar macht? Als ich zum ersten mal auf dieses eigentlich inhaltslose geheimnis stieß, war ich so jung und so unwissend, daß ich mich fast schon als krank und gestört empfand, derlei seltsamen wahrnehmungen ausgesetzt zu sein. Mir war zu jenem zeitpunkt noch nicht bewußt, daß ich an eine grenze gestoßen war, die in JEDEM bewußtsein schlummert. Das überschreiten der grenze ist in der gut funktionierenden gesellschaft ein blinder fleck auf der landkarte. Es gibt weder sachdienliche literatur noch eine salonfähige disziplin, die sich damit professionell auseinandersetzt, ohne das thema psychiatrisch zu stigmatisieren. Man hat es daher einfach den religionsstiftern, esoterikern und mystikern überlassen, darüber poetisch zu diskutieren. Und stempelt dabei die poesie als nur schöngeistige, nicht diskussionswürdige fantasie ab. An universitäten wird jeder hinweis auf das geheimnis vermieden, damit das normale auswendiglernen von unterrichtsstoff ohne gefahr für das bewußtsein gewährleistet bleibt. In öffentlichen ämtern jongliert man lediglich mit unendlichen zahlenkombinationen, ohne den unwert, die bedeutungslose bedeutung der zahllosen zahl NULL laut und deutlich auszusprechen und ins öffentliche bewußtsein zu integrieren. Denn was sollte man AUSSPRECHEN, wo wörter nicht gelten? Mit offenen mündern der sprachlosigkeit ausgeliefert, lässt sich kein amt produktiv führen. Das mystische wird darum noch immer in seine eigene sonderdisziplin "mystik" verbannt, ein paar auserwählte dürfen darüber mit offenen mündern unter sich diskutieren. Das STAUNEN bleibt ein spezialgebiet und die "erfahrbare spiritualität" eine unkonventionelle randerscheinung, während die religionen das staunen stellvertretend für die massen übernehmen, damit deren münder geschlossen bleiben. Ich frage mich, wann wohl der erste mensch eine wirklich mystische erfahrung machte, die nicht mehr von magischen ritualen und mythischen symbolisierungen in ein religiöses konsumprodukt umgewandelt wurde, sondern dem wachen, ja überwachen bewußtsein in der schockierenden originalität zur verfügung stand, die sie als nicht reduktionistisch rationalisierbares antiobjekt kennzeichnet. Erfahrungen finden auf einer biochemischen basis statt, aber die inhalte des mystisch erfahrbaren gehen über das biochemische weit hinaus. Das ist dasselbe wie mit der quantenphysik, denn die existenz einer ebene der materie, die für den verstand paradox anmutet, macht diese ebene weder durch einen wohlklingenden namen erklärbar noch verklärt sie das paradoxon durch mystifizierung. Ob man das unterste, innerste, tiefste geheimnis des seins als ein energiefeld, als leere oder als gott bezeichnet, kann nichts daran ändern, daß es als namenlose qualität ohne eigenschaft SELBSTERFAHRBAR ist, weil das gehirn aus derselben materie besteht, die wir nach ihrem geheimnis befragen. Und darum hat jeder mensch seinen eigenen direkten zugang zur "letzten" antwort auf die allerletzten fragen, sofern er sich traut, diese fragen zu stellen, anstatt sich mit voreiligen lösungen für sein problem, das eigentlich gar keins ist, von der lösungsgesellschaft einlullen zu lassen. Aber ich will ja nicht übertreiben, denn im grunde fing alles schon irgendwie vorher an...

 

Foto: "REGULAR SUNRISE" (c) De Toys, 17.9.2014 @ Ddorf-Wersten
Foto: "REGULAR SUNRISE" (c) De Toys, 17.9.2014 @ Ddorf-Wersten

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