02.NAHBELL-Preis 2001: RoN Schmidt

Interview: "GANZ ICH - IN GROSSSCHRIFT"

 

01.FRAGE (19.06.2012):

 

du warst ja schon in den siebzigern schwer aktiv in deiner gegend am niederrhein, heutzutage hätte man dich wohl als "eventmanager" für die dortige kulturszene bezeichnet, besonders was bands betrifft? hast du damals denn schon gedichte geschrieben? oder wann entstand dein allererstes gedicht und warum?

01.ANTWORT (20.06.2012):

In den 70ern war ich schon mit meiner band ORK unterwegs und habe, in unterschiedlicher funktion, bei unzähligen SESSIONS mitgemacht. Dadurch hatte ich viel kontakt zu anderen MUSIKERN, mit denen ich dann die MAN (Musiker Am Niederrhein) gründete, die eine der größten musikerinitiativen in der BRD wurde. Gedichte schreibe ich, seit ich schreiben kann (ca. 1955). Daraus erklärt sich, warum ich mein allererstes GEDICHT schrieb. "Frühwerke" sind leider nicht erhalten. Erster Gedichtband 1977 "SCHLICHTE GEDICHTE". Bis heute schreibe ich GEDICHTE oder LYRISCHE TEXTE, fast immer, einer EINGEBUNG folgend. Manche TEXTE, wie auch KUNSTWERKE tauchen fertig in meinem BEWUSSTSEIN auf. ich brauche sie nur noch aufzuschreiben, oder zu zeichnen. Seit vielen jahren mache ich, mit geschlossenen augen, in VERSENKUNG, INNENRAUMZEICHNUNGEN, die teilweise auch texte enthalten.

02.FRAGE (20.06.2012):

 

aber hast du die gedichte von anfang an auf der inneren leinwand komplett in großbuchstaben gesehen? dieses typografische wiedererkennungsmerkmal bei deiner lyrik wirkt auf mich wie in stein gemeißelte grabinschriften - ist diese wirkung beabsichtigt? soll es die psychosoziale aussagekraft von poetischen lebensbotschaften im sinne von kosmischen gesetzen optisch unterstützen? ich sage das jetzt absichtlich ein bißchen dick aufgetragen, denn in wahrheit finden sich ja oft sehr ironische brechungen in manchen zeilen... 


02.ANTWORT (21.06.2012):


Ich habe die texte eher GEHÖRT und da sie meist kurz (auch ULTRAKURZ) sind, habe ich sie mir als STANZEN vorgestellt, oder wie du sagst ".. in stein gemeißelt". Die WIRKUNG ist beabsichtigt. Mein projekt "DENKSTEIN" sieht vom STEINMETZ in große steine gemeißelte DENKSCHRIFTEN vor.

03.FRAGE (21.06.2012):


das erinnert mich an die "visuelle poesie" von timm ulrichs bzw unsere eigenen visionen von objektlyrik, wie wir das ende der 90er im artoll & im tacheles umgesetzt haben. hast du seitdem noch werke geschaffen, die deiner idee von installyrik folgen? wird der denkstein irgendwann realisiert? und überhaupt: da du die lyrik ja gerne in andere bereiche wie musik und bildende kunst einbettest, frage ich mich jetzt, ob du dich selbst überhaupt als "lyriker" siehst oder welche funktion deine texte für dich im gesamtkontext deiner kunst erfüllen?

03.ANTWORT (21.06.2012):
 
Für den DENKSTEIN hatte ich bereits einen sehr großen (seltenen) FINDLING, den TRANSPORT und den STEINMETZ, organisiert. Gescheitert ist das projekt an einer JURY... Ich habe nach wie vor die IDEE eine serie DENKSTEINE am RHEIN zu installieren. Es gibt einen VORLÄUFER: Das Projekt VERBINDUNG und SYSIPHUS zeigen aktuelle Varianten von INSTALLYRIK. Tim Ullrichs habe ich in WORPSWEDE, bei einem internationalen symposion kennengelernt. Er gab mir seine VISITENKARTE: den JOKER aus dem kartenspiel mit seinem gesicht --- soviel zu visueller poesie --- *g* Ich bin schon sehr lange MULTIMEDIALER MINIMALIST. Bei einer eröffnung der ALT im ArToll habe ich mal gesagt: "ein bild sagt mehr als tausend worte --- und umgekehrt!". So sehe ich das noch immer.

04.FRAGE (23.6.2012):


hast du denn nochmal vor, sowas wie die "Artoll Lyrik Tage" (ALT) zu organisieren? managest du überhaupt noch projekte für bzw mit anderen oder konzentrierst du dich ausschließlich auf deine eigenen werke? was steht als näxtes an?

04.ANTWORT (24.6.2012):


Bisher war ich noch alljährlich der KOORDINATOR des ROCK van GOCH Festivals, das ich mit meinem freund BERND JANSSEN vor vielen jahren gegründet habe. In zukunft habe ich vor, die ORGANISATIONSAUFGABEN jüngeren zu überlassen. Aber, man weiß ja nie ... ich war immer ein SPONTI --- *g*

05.FRAGE (24.6.2012):


und in bezug auf publikate: arbeitest du derzeit an keinem gedichtband? wann hast du dein letztes gedicht geschrieben und wie oft dichtest du durchschnittlich?

05.ANTWORT (24.6.2012):


Arbeite gerade an "GOLD" Lyrikband mit Alexander Nitsche.

 

DAS LETZTE GEDICHT
SCHREIBE ICH JETZT
OHNE INHALT UND
ETWAS GEHETZT


Ich dichte nicht durchschnittlich, aber eigentlich immer - mal mehr, mal weniger --- *g*

 

06.FRAGE (25.6.2012):


wow, ein echtes interview-live-gedicht :-) sehr schön... und die abendfüllende "1-MENSCH-SCHAU"-show? hast du die noch im repertoire? mir gefiel daran besonders die perfekt aufeinander abgestimmte kombination von theatralischen, lyrischen und akustischen elementen, oder etwas einfacher formuliert: daß du sowohl mit mimik und gestik (wie ein schauspieler) arbeitest, als auch mit einer expressiven stimme und sogar musikalischen effekten! wie bist du darauf gekommen, deine lyrik nicht nur "trocken" vorzulesen sondern sie derart minimalistisch-komplex zu performen? hast du dir etwa auch mal in jungen jahren eine langweilige "normale" lesung angetan und dann gedacht: "das geht auch anders" (sowas ist mir ja passiert) oder was treibt dich an, alle künste multimedial zusammen zu bringen???

06.ANTWORT (26.6.2012):


Die "abendfüllende" 1MS führe ich, wegen des großen technischen aufwands, selten auf. Eher die "abgespeckte" version, wie hier zum beispiel: bh25.de Ich erarbeite meist eine thematische performance. Die von dir schon genannten elemente spielen nach, wie vor, eine rolle. Weil ich auch MUSIKER, SÄNGER, TEXTER und KOMPONIST bin, war es damals, als ich mir die 1MS ausdachte, naheliegend,  alle elemente zu verbinden. Als SOLIST wollte ich, kompromißlos, VERTONTE LYRIK in einem programm aufführen. Instrumente, bühnenbild, beschallung, effekte und lightshow alleine zu bedienen und in verschiedenen kostümen überzeugend zu agieren, war eine echte herausforderung. Die minimale version, um DIE ROTE KISTE herum, gibt mir mehr freiheit zu improvisieren und mich selbst moderierend auf das publikum zu beziehen. Meine ersten kontakte mit lyrikvorträgen, waren REZITATOREN, die GEDICHTE und BALLADEN sehr beindruckend, frei vortrugen. Davon inspiriert, habe ich den SYSIPHOS in der klasse frei vorgetragen und dafür das einzige LOB meiner schullaufbahn bekommen... meine deutschlehrerin hatte tränen in den augen ... Spätestens mit Brinkmann/Rygullas ACID hat sich mein HORIZONT extrem erweitert und ich habe reimfreie TEXTE geschrieben. Später habe ich mich, bis heute, um eine VERBINDUNG beider möglichkeiten bemüht.

07.FRAGE (29.6.2012):


jaja, diese kombi aus reim & reimlos, klassisch & experimentell, das hat was sehr verspieltes und tiefsinniges zugleich in deinen werken! ich wollte dich sowieso fragen, ob du eigentlich sowas wie eine "poetologie" besitzt, ein theoretisches konzept oder manifest, das deine lyrik aus einem philosophischen oder rhetorischen standpunkt heraus definiert? das gehörte ja früher einfach dazu, als sich literarische bewegungen über ihre ismen voneinander abgrenzten, während die jungen dichter heutzutage selten wert darauf legen, eine eigene poetologie zu formulieren. aber bei dir zieht sich doch eine wiedererkennbare linie durch alle arbeiten, oder? poetologisch? oder sogar auch inhaltlich? gibt es thematische schwerpunkte? und stilistische richtlinien? was kennzeichnet ein "typisches" rongedicht? doch bestimmt nicht nur die großschrift! :-)

07.ANTWORT (29.6.2012):


Nein, kein konzept, keine theoretische grundlage, nur der immer wieder scheiternde versuch, ganz ICH zu sein, im HIER+JETZT. Meine geschichte, mein hintergrund, scheint überall durch und macht alle meine ERZEUGNISSE wiedererkennbar für den KENNER --- *g* Ja, es gibt thematische schwerpunkte: "LIEBE" - "MEER" - "ALL" - "SCHICKSAL" - "GOLD" - - - Das "gemeißelte" der großschrift gefällt mir. Sie verhindert zu viele worte, wenn ich mir beim schreiben die arbeit vorstelle, die ein steinmetz damit hätte.

08.FRAGE (30.6.2012):


yeah, du bringst mich zum lachen, bester ron! das ist eine wundervolle poetologie: minimalismus, damit der steinmetz nicht flucht :-) hey, weißt du was: dieses "ganz ich sein" beim dichten ist auch ein gar nicht zu unterschätzender poetologischer aspekt, weil es eine bestimmte haltung gegenüber dem sogenannten "lyrischen ich" erzeugt, nämlich daß dieses dichtende ich eben NICHT unterschieden wird von der "realen" persönlichkeit, eher eine ERWEITERUNG aus der von dir angedeuteten "versenkung" darstellt - oder nicht? da wird mir plötzlich bewußt, warum ich auch ganz persönlich deine gedichte so liebe, als wären es selbstgeschriebene: weil deine "technik" eben auch DIREKTE dichtung ist, ohne das gesamt-ich in echtes & lyrisches aufspalten zu müssen! ja... wer weiß, vielleicht suche ich instinktiv nach solchen kollegen für den nahbellpreis, weil es meinem naturell entspricht? ich habe das wirklich noch nie so gesehen, denn wenn man hadayatullah oder stan mit dir oder mir vergleicht: unterschiedlicher könnte dichtung nicht sein! auch der diesjährige preisträger clemens schlägt ja seinen ganz eigenen ton an - aber es gibt da womöglich doch parallelen, nämlich genau den von dir angesprochenen umstand, GANZ ich sein zu wollen! würdest du das so unterstreichen? oder liege ich da jetzt komplett falsch in meiner spontanen begeisterung? vorallem: dieses wörtchen "ganz" deutet doch gerade auf diesen außergewöhnlichen bewußtseinszustand, der eben weiter und "mehr" ist als die normale alltagshypnose, in der man nicht unbedingt ständig die innere leinwand betrachtet und grabsteinreife weisheiten wahrnimmt... was meinst du dazu?

08.ANTWORT (29.7.2012):

 

Hört sich ALLES GANZ richtig an!

09.FRAGE (20.8.2012):


tja, damit wäre dann wohl FAST ALLES geklärt :-) nur noch eine einzige frage zum schluß: welches gedicht wird auf DEINEM grabstein stehen? und damit wäre ich dann auch schon mit meinem interview-latein am ende. was gibts sonst so neues vom niederrhein zu berichten? der alex nitsche macht ja übermorgen einen kurzen zwischenstop bei mir zum brunchen, um dich danach zu besuchen, wenn ich es richtig verstanden habe? was habt ihr vor? ich wittere ein gemeinsames projekt...

 

09.ANTWORT (21.8.2012):

Im moment gibt es drei zur auswahl:

 
KEINER ROLLT DEN STEIN ALLEIN!
 
ALLES GESTALTET SICH
MIT MIR
UND OHNE MICH
 
SCHICKSAL LÄSST SICH NICHT VERWALTEN
LEBEN GEHT DURCH UNS
WIE DURCH EIN SIEB
NICHTS UND NIEMAND
KÖNNT IHR JEMALS HALTEN
LASST ALLES LOS UND HABT EUCH LIEB


Antwort auf private fragen:
Ja, ALEXANDER besucht uns, aber andersherum --- *g*
Ja, wir arbeiten schon seit jahren an einem gemeinsamen projekt.

Nitsche & DeToys (c) 22.8.2012
Nitsche & DeToys (c) 22.8.2012

10.FRAGE (22.8.2012):


gold im endstadium? oder schon diamant??? ich werde es vielleicht gleich erfahren - ich muß jetzt los, er hat sich bereits per sms gemeldet und erwartet mich am rheinufer :-) lieber RoN, vielen dank für all deine ehrlichen antworten! ich bin sehr froh, daß es solche dichterkollegen wie dich noch gibt, die KEINE berufsroboter mit bestsellerschielblick sind sondern den kosmischen durchblick bewahren! ich hoffe, du bereicherst die weltszene noch lange mit deinen klaren botschaften, die zugleich urmenschlich und dabei höchst urpoetisch daherkommen...

BEISPIELGEDICHT VON 1996

 

 

 ICH UND MEIN GEHIRN
MEIN LIEBLINGSTHEMA
DER NABEL DER WELT
ALS ÜBERLEBENSSCHEMA
PROBLEME OHNE LÖSUNG
KÖNNEN NUR ENTSTEHN
WENN WIR SIE ÜBERHAUPT
UND WIE WIR SIE SEHN

IMMER SIND WIR AUCH
EIN TEIL DER BETRACHTUNG
BEWUNDERUNG BEIM EINEN
IST BEIM ANDEREN VERACHTUNG
UNSCHÄRFE ENDLOS
FÜHRT ZU KATASTROPHEN
WIE DOMINOSTEINE
FALLEN ALLE PHILOSOPHEN

MUSIK VON HEUTE
MUSIK VON GESTERN
LIEBE UNTER BRÜDERN
UND LIEBE MIT SCHWESTERN
LIEBE IST NACH WIE VOR
DIE STÄRKSTE KRAFT
WENN AUCH IM KOPF
OFT EIN ZWEIFEL KLAFFT
WENN ICH DAS SEHE
KANN ICH NUR SEHN
DASS SCHILDKRÖTEN
IMMER AUF
SCHILDKRÖTEN STEHN

 

 

RoN Schmidt, Songtext 1996
(c) CD "wir werden fliegen"

 


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