Essay: POESIE ALS NISCHENBEWEIS (1993)

"Seine Tendenz zur Normalität entsprach einer Persönlichkeit, die durch die Konfrontation mit dem Unbewußten nicht entwickelt, sondern nur gesprengt worden wäre. (...) Man kann wohl sagen, daß das heutige Kulturbewußtsein, insofern es sich philosophisch reflektiert, die Idee des Unbewußten und deren Konsequenzen noch nicht aufgenommen hat, obwohl es seit mehr als einem halben Jahrhundert damit konfrontiert ist. Die allgemeine und grundlegende Einsicht, daß unsere psychische Existenz zwei Pole hat, bleibt noch immer eine Aufgabe der Zukunft."
Carl Gustav Jung: ERINNERUNGEN, TRÄUME, GEDANKEN (1961)

 

 

Tom de Toys, den 22./23.8.1993

POESIE ALS NISCHENBEWEIS


einige gedanken durchkreisen meinen kopf, ohne daß die ahnung der wiederholung sie mir überflüssigt, denn aktuelle erfahrungen mit alten problemfeldern bedürfen auch einer direkten, spontanen behandlung, um "ewige antworten" nicht auszutrocknen, sondern mit der inspirierten spucke aufs neue zu verSINNlichen (statt sinnBILDern zu verhaften) so wie erregte geschlechtsteile trotz wohlbekannter offenheit immer neue befriedigungen ermöglichen. im heutigen falle beschäftigt mein bewußtsein jene frage nach der übertragbarkeit persönlicher widmungen, weil diese sogar trotz des unausweichlichen ernstes einer folgenreichen mitteilung nicht auf das ursächliche phänomen beschränkt bleiben müssen, dadurch aber der verdacht eines intimen bezugsverlustes naheliegt. diesen zu entkräftigen soll hier meine freude des drüber-nach-und-nach-denkens dienen, so daß ich gleich mit allen traumtüren ins haus ohne wände fallen will - in der hoffnung, kurzundbündige aufklärung zu bieten nach diesem einleitenden geschwafel:
jede GELEBTE GEGENWART im sinne "göttlicher" leidenschaft entsteht erst durch totale hinwendung zu dem dominanten phänomen innerhalb des akuten wahrnehmungsspektrums, dessen latenter eros sich als passende gestalt für das psychopuzzle offenbart und dadurch zur ganz konkreten begegnung drängt sobald lähmende urängste abgebaut sind und das "Daß" der NÄHE als geburtsprämisse (-mehrfaches "da"-) im durchlösten "Wie" der lebenspraxis zur geltung kommt...
diese präsentische bereitschaft zur integralen reduktion auf bewußt verabsolutierte glücksmängel (defizite) und -überdosen (extravaganzen) verdichtet sich im genialischen geist als POETISCHE FORMEL FÜR ANGEWANDTE ANWESENHEIT IN EINER EXEMPLARISCHEN EKSTASE, um die strukturelle transparenz der speziellen gefühle auch mit zeitlicher distanz zu garantieren, weil jeder sprachspiegel erst durch eine intime interpretation überhaupt gefüllt werden kann.
alle worte, egal wie mikrokosmisch sie im lichte ihrer frischen findung scheinen, mutieren letztlich zu pauschalnischen, deren historischer kontext oftmals nur mittels beigefügten angaben zu personen, orten und entstehungsterminen in die öffentliche selbständigkeit hinübergerettet werden kann, was dem "pathetischen" schmerz jener vergänglichkeit (-sogar "Großer Gnade"-) keinen trost bietet.
es bleibt eben nur warme asche und das wachsende wissen um die diskrepanz zwischen sozialem winter und individueller sehnsucht.

 


(Der Text wurde anläßlich seiner Veröffentlichung

als Vorwort der Gedichtsammlung "ERDNOT"

für den Berliner G&GN-Verlag

Ende März 1998 optisch neu überarbeitet)

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