Michael Gratz zum Tode von Martin Pohl (+ 23.9.07)
Eine traurige Lesefrucht der Reise: In Berlin setzte ich mich auf einen Platz mit einer zurückgelassenen Zeitung: Nordkurier/
Neubrandenburger Zeitung vom 29./30.9. Im Kulturteil auf Seite 1: "Lyrik der Heimatlosigkeit: Martin Pohl gestorben". Traurig wie die Nachricht die Tatsache, daß ich es ohne die im Zug gefundene
Zeitung wohl gar nicht erfahren hätte. Bis jetzt jedenfalls habe ich keine andere Nachricht gefunden. Wer kennt Martin Pohl? Wer interessiert sich für einen Dichter, der nicht oder nicht mehr ins
"Hochfeuilleton" kommt?
Martin Pohl wurde in Schlesien geboren und kam nach dem Krieg nach Berlin. Er wurde "Meisterschüler bei Bert Brecht" und veröffentlichte Gedichte. 1953 verschwand er aus dem öffentlichen - und
literarischen - Leben direkt ins Zuchthaus unter dem Vorwurf der Spionage für den Feind. Nach zwei Jahren - Brecht hatte zu seinen Gunsten interveniert - kam er vorzeitig frei, konnte aber nicht
mehr publizieren und ging in den Westen, wo er sich als Tellerwäscher, Bürobote und "Dichtervagabund" durchschlug. "Die DDR hat mir den Knast eingebracht, die BRD die Klapsmühle", sagt er 1994 in
dem Dokumentarfilm "Ich bin mit meiner Angst allein". Nach jahrzehntelanger Trennung findet er seine Tochter wieder, Wera Koselleck, aus seiner gescheiterten Ehe mit der staatstreuen
DDR-Schriftstellerin Margarete Neumann (Lesern bekannt als Mutter des - verschollenen, abgetauchten? - Schriftstellers Gert Neumann). Ihr folgte er nach Neubrandenburg. Ein Sonett schrieb er über
den Tod Ulrike Meinhofs. Das letzte Terzett:
Wem aber nützt ein Kampf aus einer Gruft?
Jetzt zieht geduldige Ungeduld vom Leder
Und trifft beim ersten Steinwurf leere Luft.
Ein anderes Gedichte erinnert in vier Strophen vier Todesnachrichten - Brecht, Celan, Ingeborg Bachmann und Johannes Hübner. Jetzt müssen wir ihn dazuschreiben. Seine Sonette und Ghaselen sollen
gelesen werden:
"Gedichte 1950 - 1995"
Berlin: UVA 1995
"Nur ein Erinnern traumumflort. Ghaselen, Sonette und andere Gedichte."
Neubrandenburg: federchen Verlag, 2002
Martin Pohl, 6.8.98
RUSSISCHES REITERLIED
Iwan, reite schneller! Reite
Durch die Tundra, durch die Weite!
Reite durch Moder und Moräste
Wie zu deinem Hochzeitsfeste:
Auf dich wartet deine Braut,
Die dir sonst der Schneesturm klaut.
Iwan, reite durch die Sümpfe!
Deiner Braut spritzt´s an die Strümpfe.
Iwan, reite! Iwan, presche!
Deiner Braut geht´s an die Wäsche.
Besser doch vom Dreck bespritzt,
Als vom Herrn, der auf ihr sitzt.
Iwan, reite! Iwan, hetze!
Und wird deine Braut zur Metze,
Geht es auch durch Schlammgerölle
Graden Weges in die Hölle,
Bleibt dir doch, sei´s noch so harsch,
Treu der Klepper unterm Arsch.
Martin Pohl, 26.8.98
LIED VON ADLER UND REBHUHN
Ein Adler namens Prometheus,
Der sprach: Ich diene dem Herrn Zeus
Als Wappenvogel, ihm allein,
Drum werd` ich nie ein Rebhuhn sein.
Ein Rebhuhn namens Obolus,
Das wiegte sich vor Jägers Schuß
In Sicherheit, wenn´s ihm geläng`,
Daß es in Adlers Näh` sich schwäng`.
Der Adler schlug das Huhn darauf
Und fraß in seinem Horst es auf.
Daß je solch Huhn `nen Adler fraß,
Fleußt nur aus Dichters Tintenfaß.
(c) Erstveröffentlichung im G&GN-Archiv des Kunsthauses Tacheles