"Anziehungskraft von Lyrik für solche Leser, die keine anderen Gedichtsammlungen kaufen als Anthologien von 'Naturgedichten', 'Liebesgedichten',
'Katzengedichten' oder was sonst noch [...] Wenn derartige Leser dann auch den Kitzel eines Prominentenauftritts mit der Qualität der dargebotenen Texte verwechseln, so könnte das bestenfalls
eine Phase im Ausbau ihrer Empfänglichkeit sein - eine Phase, die sie weiterführt zur Suche nach solideren Arten der Befriedigung."
Michael
Hamburger über "die Hölle des Übersehenwerdens", 1982 in der Taschenbuchausgabe von WAHRHEIT UND POESIE (THE TRUTH OF POETRY, 1969)
"Obwohl Antonin Artaud die absolute wahrheit wollte (leider mit drogen), Yvan Goll die liebe entdeckte, die Heinrich Heine vermisste, Walt Whitman die menschheit
an sich feierte, während wir heute noch immer terrorismus erfinden & bekämpfen, Ernst Meister die mystik aus seiner lebensnähe heraus trivialisierte, sind wir umzingelt von allzu fanatischen
geheimniskrämern, zwangshermetikern und symbolsüchtigen, die sich am supraseriösen metaphernwahn ergötzen und den literarischen zivilisationsprozess auf langweiliger sparflamme dahinvegetieren
lassen. Sobald kunstwerke zu leicht interpretierbar sind, wird absichtlich verkompliziert."
De Toys, 12.8.2013 in: sOMatoform 21
"WEISHEIT, WAHNSINN & WISSENSCHAFT"
(in: MEHR JETZT, 2014)
"Über die große Weigerung und die neue Sensibilität ging die Politik zur Tagesordnung über und die Kulturindustrie zum Geschäft mit der Rebellenromantik; und da
die Revolution nicht gelang, blieb einzig die Ästhetik zurück."
Harald Hartung, 1985 in: DEUTSCHE LYRIK SEIT 1965
"...die Politiker an der Macht, links und rechts gleichermaßen, vertreten unter falschen, zur Schau aufeinander abgestimmten Differenzen ein und dasselbe Programm. (...) Der öffentliche Gebrauch kritischer Vernunft gerät in Verruf, es profitieren die irrationalen Gesetze der Kommunikation, vorsätzlich theatralisiert und inszeniert von Finanzkonsortien mit Monopolstellung; tagtäglich manipuliert man die Massen durch suchtfördernden Gebrauch des Fernsehens, jedes einigermaßen konstruktive Projekt wird zugunsten einer Religion des Konsums verhindert usw."
Michel Onfray, in: DIE REINE FREUDE AM SEIN (2006)
Tom de Toys, 8.1.2021 ® POEMiE™
NIE GEHALTENE NOBEL(L)PREISREDE
was kann ich schon sagen
was doch alle hier längst wissen?
lyriker wie ich die sollen sich verpissen!
wer im kanon des betriebs die blaue note trifft,
der wird dann irgendwann von oben eingeschifft!
dein ganzes leben ist ein megascheissgedicht,
doch gibt der könig dir am ende ein gewinner...
winner... winner... gesicht:
DU HAST DEN NOBLEN NOBELPREIS GEWONNEN -
der buchverkauf hat jetzt begonnen!
bei den andern ist der traum zerronnen
alle texte landen in mülltonnen ich steh hier
als stellvertreter einer königsdisziplin und doch
will ich am liebsten vor der königsgnade fliehn
man hat mich viel zu spät für ruhm und ehre
auserwählt das ganze werk wird nun posthum gequält
denn meine lauten dichtertage sind gezählt
poetologisch ist nicht mehr politisch, nein: es
wurde wiedermal die lehre mit der leere vermählt:
DU HAST DEN NOBLEN NOBELPREIS GEWONNEN -
der winterschlußverkauf: begonnen!
die bücher übersetzt in alle sprachen
obwohl sie mit den regeln brachen
im sonett "besoffen" und
"bekifft"
ist das so schwer?
ich bin nur metaphorisch versifft!!!
direkte sprache kommt direkt zur sache
nicht ein einziges gedicht hält totenwache
weil ich will daß jeder leser gleich
beim ersten lesen ERWACHE
mit dieser hoffnung bin ich nicht alleine
im schattenkabinett der lyrikszene sitzen
neben Schittko, Kabel und Play Nerd
auch tote wie der faltenfreie Heine
Rilke zwinkert zwangsneurotisch aus der
dunklen zimmerecke Sartre zu - und der zurück;
auch Goethe wurde glattgebügelt
damit er nicht die masse wecke!
gut, die katze ist nun aus dem sack
und offenbart des pudels kern:
literatur ist mehr als nur ein neuer lack
auf der karosserie mit engel oder stern
wer lyrik auf fassaden sprüht
hält sich von solchen preisen fern
mir wird nach dieser blasphemierten rede
niemals ein stipendium geschenkt
doch will ich prophylaktisch hinterlassen
warum wir solche preise hassen:
ein genie trinkt klares wasser
lieber aus kaputten tassen
Rolf Dieter Brinkmann, in: DIE PILOTEN (1968)