03.NAHBELL-Preis 2002: stan lafleur

Nach und nach führt das G&GN-Institut mit einigen Preisträgern per Email ein Interview, dessen jeweils topaktuelle Frage hier bereits angezeigt wird, bevor die Antwort erfolgt...

 

Interview: "INSZENIERUNG & SZENE"

 

01.FRAGE (14.5.2015):

Warum bist du damals (1994) eigentlich von Düsseldorf nach Köln umgezogen? Du hattest dir doch in Düsseldorf bereits einen Namen gemacht als Dichterfürst, oder nicht? Ich erinnere mich noch an einen kultigen Auftritt mit der Band Kreidler in einem kleinen Club in der Altstadt. Hat der Umzug die Karriere irgendwie begünstigt?


01.ANTWORT (21.5.2015):

Mein Wegzug aus Düsseldorf hatte mehrere Gründe. Um die Jahreswende 93/94 hatte ich das Gefühl, mit meiner Literaturproduktion, die mir das meiste bedeutete, auf der Stelle zu treten. Eine Gruppe, die ich an der Heine-Universität mitbegründet hatte, in der Texte vorgetragen, diskutiert und Auftritte organisiert wurden, hatte sich nach einem halben Jahr ausgereizt. Nachdem ich die Gruppe verlassen hatte, fand ich in Düsseldorf, zumal ich zu diesem Thema radikale Ansichten vertrat, kaum Leute, die mein Bedürfnis teilten, über Literatur zu sprechen. Zwar kam recht viel Publikum zu meinen Auftritten, die eher experimentelle literarische Shows mit ausgiebigen performativen und musikalischen Elementen als Lesungen waren – mir fehlte jedoch die kritische Reibung, vor allem was gegenwärtige und möglicherweise neuartige, das literarische Korsett sprengende Möglichkeiten betraf. Von außen drang wenig Input durch, ich fühlte mich mit meinen Ansprüchen an die Literatur isoliert und sah Gefahr, durchzudrehen, falls ich nicht bald auf Leute stoßen würde, mit denen ich mich austauschen könnte. Es kumulierten dann ein paar unerfreuliche Ereignisse, von denen mich am heftigsten der Mord an meiner früheren Mentorin Renate Neumann traf. Renate war von ihrem Mörder geköpft worden; die Nachricht erreichte mich telefonisch, als ich, eine krasse Koinzidenz, den Coen-Film Barton Fink anschaute, in dessen Verlauf einem in der Krise befindlichen Schriftsteller ein Paket mit einem abgeschlagenen Haupt untergejubelt wird. Als ich nach dem Anruf vor die Tür ging, war der Mord an Renate Titelseite der Abendausgabe des EXPRESS. In Rath, wo ich damals wohnte, hörte ich eine Gruppe Arbeiter über der Schlagzeile lästern, daß das Opfer "ja nur 'ne Lesbe" gewesen sei. Ich stellte mich vor sie hin und brüllte sie an, was sie sonst noch über die Frau wüßten, mit der ich befreundet gewesen war. Da entschuldigten sie sich und waren plötzlich ganz verschüchtert. Und ich noch bedrückter als zuvor. Zwei Tage später gab ich meine Wohnung auf, stellte mich an die Straße und hielt den Daumen raus. Ich benötigte dringend neue Perspektiven. Die Straße führte nach Frankreich. In Montpellier bezog ich für einige Wochen eine Altstadt-Wohnung, die mir Leute, die ich in einem Café kennengelernt hatte, spontan zur Verfügung stellten, in einem Haus, in dem ein weiterer deutscher Schriftsteller wohnte, den ich aber nie zu Gesicht bekam. In Montpellier wurde mir klar, daß ich für mein Schreiben den deutschen Sprachraum brauchte, daß ich in Deutschland weitermachen würde. Ausschlaggebend für Köln waren neben meiner Rheinaffinität und dem damaligen Kunstruf der Stadt, daß ich nach dem Kreidler-Debutauftritt in der Melody Bar, den Du angesprochen hast, mit den Herren weiterarbeiten wollte - anfangs war Kreidler ja ein gemeinsames Musik- und Spoken Word-Projekt. "Karriere" war damals keine Begriffskategorie, in der ich gedacht hätte. Mir ging es einzig darum, was aus Sprache herauszuholen wäre, als Beschreibungsmittel für die Welt, und wie sie sich auf möglichst intensive, ungekannte Art inszenieren ließe. Zudem gab es in Düsseldorf keine Institutionen oder Verlage, die sich für das, was ich machte, was vor allem Ausprobieren war, interessiert hätten. Begriffe wie Spoken Word, Open Mike oder Slam Poetry (für zeitgenössische angloamerikanische Formen der Bühnenliteratur) waren dort noch unbekannt. So fehlte abseits der Off-Szene in Düsseldorf auch das Wissen, daß in der Stadt eine neue Literatengeneration am Werk war, die primär auf der Bühne an die Öffentlichkeit trat, bzw fehlte, wo das Wissen vorhanden war, der Wille, sich das anzuschauen, sich damit auseinanderzusetzen. An einem solchen Ort konnte ich zwangsläufig nicht lange bleiben. In Köln traf ich umgehend auf bereits bestehende Szenen mit ähnlichen Anliegen, die auch mal den einen oder anderen Presseartikel bekamen und darüberhinaus bundesweit, sogar international vernetzt waren. Das erachtete ich in der Tat als Fortschritt.

 

02.FRAGE (11.6.2015):

Die Liste der Preise, Projekte und Publikationen in den 20 Jahren, die seitdem vergangen sind, ist sehr lang. Und deine literarischen Einmischungen in den kulturellen Alltag haben viele Nuancen von experimentell-performativ bis zu humoresk-satirisch. Von Texten für die politisch-gesellschaftskritische "Rheinische Brigade" bis zum meditativen "Rheinsein" umfasst dein Werk eine ganze Palette an stilistischen Komponenten und lebensphilosophischen Inhalten. Hat sich die bisherige Anstrengung als Schriftsteller gelohnt? Bist du mit dem Erreichten zufrieden? Was soll und was kann noch kommen?


02.ANTWORT (13.6.2015):

Der Prozeß läuft und ließe sich gewiß als kuriose Kurve darstellen. Aus dem Verfassen von Literatur konnte ich abrupte wie langwierige Erkenntnisse oder auch Glücksmomente ziehen. Zweifel nicht minder. Zufriedenheit. Unzufriedenheit. Steckt alles mit drin. Über künftige Projekte schweige ich lieber, bis sie präsentabel sind.


03.FRAGE (13.6.2015):

Wenn du jetzt sterben würdest, von welchen 3 Gedichten würdest du dir wünschen, daß sie "für die Ewigkeit" geschrieben wären? Welche 3 erachtest du als deine ultimativen Favoriten bzw welche repräsentieren deinen Ansatz am gelungensten?

 

03.ANTWORT (13.6.2015):
Dieser Punkt kümmert mich nicht. Er hat mich einst gekümmert, aber heute nicht mehr. Was meinen Ansatz angeht, so besteht er aus mehreren, teils parallel verlaufenden, teils sich entwickelnden, teils versiegenden und neu hinzukommenden. Durchgehende Fäden sind bis dato u.a., daß ich selten das klassisch Schöne ausstelle, als zeitgenössisch erkennbare Komponenten verwende und meine Texte nicht zwingend als endgültig betrachte. Die Literaturwissenschaft hat sich bisher eher punktuell mit meinen Gedichten befaßt, also mit Werkausschnitten. Die Zuschreibungen der Presse sind bunt; zurecht, wie ich finde: anfangs habe ich reine Bühnentexte verfaßt, lyrotronische Experimente mit Bands vollzogen, habe mich dann, nachdem ich zur Jahreswende 1991/92 in Ashanti ein prägendes Spracherlebnis hatte, auf lautliche Katalysatoren für printkompatible Texte konzentriert, zugleich auf ein zeitgenössisches Vokabular, das auch Fachvokabular enthielt, es gab eine Fase mit politisch motivierten Gedichten, der Punkfaktor spielte eine Rolle, selbstauferlegte serielle und formale Zwänge, es gab blödsinnig-verspielte Gedichte, lyrische Orts- und Personenbeschreibungen, zuletzt eher meditative Alltagsbetrachtungen. Was davon gelungen ist, unterliegt hauptsächlich der Bewertung derjenigen, die es lesen oder sich anhören.

 

04.FRAGE (13.6.2015):
Könntest du, um dem Leser einen Eindruck von der Bandbreite deiner Arbeit zu vermitteln, für jede stilistische Richtung/Periode ein prägnantes Beispielgedicht zitieren?

 

04.ANTWORT (21.8.2015):
Erste Texte waren ausschließlich für den Bühnengebrauch, andere sind längst vergriffen und werden nicht nachgelegt, sind allenfalls antiquarisch oder teilweise auch im Netz aufzuspüren. Fasen, Sub- und Mischfasen in meinem Werk habe ich nie dezidiert benannt bzw. datiert, im Sinne: "mit diesem Text hat es begonnen, mit jenem dann geendet". Solche Marken dürfen, falls sie mögen oder sich aus sonstigen Gründen veranlaßt fühlen, Literaturwissenschaftler aufspüren und setzen. Welche Gedichte als besonders prägnant empfunden werden, kann ich, mit Ausnahme früher Sprechtexte, die auf diversen Bühnen besonders auffällig funktionierten (und offenbar heute noch funktionieren, wenn sie von Dritten vorgetragen werden), ebenfalls nicht sagen. Ich bekomme Rückmeldungen zu ganz unterschiedlichen Texten, bisweilen überrascht mich die Auswahl von Anthologisten, die von meinen Gedichten solche für maßgeblich erachten, auf die ich kaum gekommen wäre. Im Internet sind für den zahlungsunfähigen Leser diverse Auswahlen meiner Gedichte gratis abrufbar.

 

05.FRAGE (10.5.2016):
stan, danke für all Deine Antworten! Zwei letzte miteinander verbundene Fragen habe ich noch: Ich erinnere mich, daß Du bereits seit den 90ern nicht nur dichtest, sondern auch andere künstlerische Mittel benutzt. Seit geraumer Zeit zeigst Du auch mehr oder weniger experimentelle (oder besser gesagt: irritierende) Fotografie, deren Faszination darin besteht, daß die Motive eigentlich nur die vorgefundene Wirklichkeit eins zu eins abbilden, also wie ein objet trouvé: Der zerstückelte Kölner Dom ("Defragdom") und diverse Landschaften bei hoher Geschwindigkeit fotografiert ("Speedscapes"). Das sind ja ebenfalls irgendwie "meditative Alltagsbetrachtungen" (siehe 3.Antwort). Woher rührt der allgemeine kreative Impuls bei Dir, gibt es eine lebensphilosophische oder spirituelle Haltung hinter all Deinen Werken, die benennbar ist, oder psychologische ("seelische") Faktoren als Auslöser? Steuerst Du letztlich auf ein Gesamtkunstwerk-Konzept zu, so daß irgendwann eine interdisziplinäre Ausstellung Deines Schaffens zu erwarten ist?

 

05.ANTWORT (10.5.2016):
Deine Erinnerung trifft zu. Es gab und gibt diese Ausflüge in die Musik und die Bildende Kunst. Anlässe dafür habe ich weniger gezielt gesucht, als daß sie organisch am Wegrand aufschienen. So entwickelten sich in Düsseldorf z.B. Schnittpunkte hauptsächlich mit der seinerzeit recht experimentierfreudigen Musik-, später in Köln auch mit der Kunstszene. Über die eigene Disziplin hinauszuschauen ist eine gute Taktik, um neue Impulse zu empfangen und ihre Wirkweisen (etwa mit literarischen) abzugleichen.
Vorgänge des Fotografierens mag ich seit meiner Kindheit, als ich mit meiner ersten Ritsch-Ratsch-Kamera in den Karlsruher Zoo stiefelte und verwackelte Tieraufnahmen machte. Wahrscheinlich wirkte die Faszination daran, daß Blicke sich zu statischen Bildern verfestigen können: Malerei auf Fingerdruck, nur mit Licht und Vorstellungsvermögen, zeitgenössische Zauberei. (Hinzu kamen vor dem fertigen Abzug natürlich doch noch ein paar technische Vorgänge, die sich meiner Kontrolle entzogen.) Meine Bildvorstellungen klassisch korrekt abzulichten bzw. Fotos selber zu entwickeln habe ich allerdings nie oder allenfalls ansatzweise gelernt. Seit ein paar Jahren gehe ich kaum mehr ohne Kamera aus dem Haus. Meine erste Digitalkamera, genau wie meine erste Kamera überhaupt ein Geschenk meines inzwischen verstorbenen Vaters, gehört prothetisch zu mir wie mein Notizbuch, übernimmt gelegentlich auch dessen Funktion. Mit der elektronischen Fotografie sind Ökonomiezwänge im Abbildungshaushalt so gut wie verschwunden, das ergibt ein neues Verhalten am Auslöser. Und mit dem  Auslöseverhalten verändert sich der Blick. Und  Bildbearbeitungsprogramme mit ihren ausgefeilten, mittels Skalen abgesteckten Funktionen und Filtern verändern das Bearbeitungsverhalten bzw. setzten es für mich überhaupt erst in Kraft. Erst innerhalb dieses noch recht jungen elektronischen Kontexts habe ich erforscht, inwieweit die klassisch-analoge Wirklichkeit solche Funktionen und Filter besitzt. Natürlich gibt sie jeden einzelnen vor. Durch die verdreckten Plastikplanen der Fährboote auf dem Bosporus zu fotografieren ergibt den William Turner-Effekt. Fenster, Wasserlachen, poliertes Material, Kunstlichtaufkommen, oft dort, wo normalerweise niemand hinschaut, wirken wie Linsenaufsätze und ergeben die von Dir erwähnten Irritationen. Meine Lieblingskamera, ein zehn Jahre altes Volksmodell von der Größe einer Zigarettenschachtel, arbeitet eigenständig mit: stelle ich sie auf Automatikbetrieb und setze sie bzw. den fokussierten Bereich Geschwindigkeit aus, bestimmt sie selbst den passenden Auslösezeitpunkt. Das ergibt selten betrachtete/zu habende Wirklichkeitsausschnitte - am Rechner gebe ich ihnen zusätzlich ein wenig Schliff, eine persönliche Note, z.B. in puncto Farbintensität. Das geht tatsächlich in Richtung „meditative Alltagsbetrachtung“, eine Kategorie, der auch viele meiner jüngeren Gedichte angehören, deren Drive sich wiederum teilweise an Techniken bedient, die ich beim Fotografieren entdeckt habe.
Die einzelnen Disziplinen betrachte ich bei allen gegebenen Überschneidungen (beispielsweise: literarische Songzeilen oder Bild-Text-Einheiten) generell, gewiß ein Paradoxon, eher konservativ, will sagen: weitgehend getrennt. Ein übergeordnetes Gesamtkunstwerk-Konzept existiert nicht, zumindest kein offen postuliertes. Meine Vorgehensweisen sind insgesamt überwiegend chaotisch, häufig ökonomischen Zwängen unterworfen. Doch natürlich fügt sich auch das Chaos letztlich zum Werk. Eine Haltung, die sämtlichen meiner kreativen Äußerungen innewohnen würde, vermag ich kaum auszumachen, dafür empfinde ich die Schaffensanlässe über die vergangenen bald 30 Jahre als zu verschieden, pessimistische und optimistische Ansätze halten sich die Waage. Mein Werk würde ich am ehesten als unregelmäßiges Mosaik bezeichnen, als welches der Werkausschnitt rheinsein.de tatsächlich konzipiert ist.    
Daß ich mich für mehr als eine Kreativdisziplin und innerhalb der einzelnen Disziplinen wiederum für möglichst viele Ausdrucksformen interessiere, dürfte unterschiedliche Ursachen haben. Vermutlich an erster Stelle den Spieltrieb. Daneben zahlreiche weitere Triebe, Empfindungen und Absichten in wechselnden Gewichtungen. Es fühlt sich für mich nicht jedesmal exakt gleich an, wenn ich mich an ein Gedicht setze – und nachher, sobald etwas auf dem Blatt steht, schon garnicht. Darüber formiert sich, das nehme ich seit einer knappen handvoll Jahre so wahr, tatsächlich eine spirituelle Haltung, die dem Input entwächst, den die Postmoderne, die zunehmend in Postrealität kippt, als wohl wuchtigste Geistesströmung unserer Lebensspanne mir eingedengelt hat. Dazu gehört u.a. wachsende Milde beim Erfassen/Annehmen von Widersprüchen und eine diffuse, zunehmend an Klarheit gewinnende Umgewichtung von politischen auf psychologische Erklärungsansätze, dazu gehört ganz wesentlich, daß ich immer seltener Gewißheit darüber empfinde, ob überhaupt etwas wirklich so ist, wie es auf den ersten oder zweiten Blick erscheint: mit ein Grund, weshalb ich mit Selbstauskünften hadere. Andererseits ein Gedanke, der mindestens so alt wie das Abendland ist, und somit ein tröstlicher obendrein.

 

 

(c) Originalquelle des Beispielgedichtes:

https://stanlafleur.wordpress.com/2015/07/10/freibad/

10. Juli 2015

stanlafleur

Freibad

Jahre und Tage verbrachte ich mit
dem Betrachten der Lichtreflexe auf
den Bodenkacheln des Rutschbeckens

Wurde zum Chlorfisch. Mein Meister
trug seine Trillerpfeife lose, sprach
einen Dialekt, den ich kaum verstand

Ich erinnere mich an Kinderbeine
Schwimmärmel, Jauchzer, Geschrei
Aus der Hecke stießen die Bremsen

Dann wurde alles blau. Als toter Mann
schwebte ich durch den Himmel
Drei lautlose Krähen auf meiner Spur

 

(c) Originalquelle des Beispielfotos:
https://stanlafleur.wordpress.com/2016/05/04/defragdom/

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