"Du brauchst diese Stille, / um Geist zu inszenieren. /
Ohne diese Inszenierung / geschieht nichts." © W.S. 2013
Ein völlig unbekannter Autor innerhalb der aktuellen Lyrikszene - man könnte meinen, er sei ein "Vergessener", aber er war nie wirklich an der literarischen Front, sondern publizierte seit den 70ern fast unbemerkt 9 Gedichtbände und 14 Bücher mit Kurzprosa...
Dieser Artikel erschien am 21.6.2016 auch in der LYRIKZEITUNG
G&GN-INSTITUT D'DORF ELLER-SÜD / 2016 geht der 17.Nahbellpreis an einen heute weitgehend unbekannten Aussenseiter der Lyrikszene: Der Dichter Dr. phil. Wolfgang Streicher wurde am 23.1.1936 in Stuttgart geboren und war in seinem Wohnort Esslingen ab 1967 Diplom-Bibliothekar an der Pädagogischen Hochschule und später bis zu seiner Pensionierung an der Fachhochschule für Sozialwesen. Er studierte Germanistik, Romanistik und Philosophie an der Universität Tübingen und promovierte 1965 bei Professor Richard Brinkmann mit der Arbeit "Die Dramatische Einheit von Goethes 'Faust': Betrachtet unter den Kategorien Substantialitat und Funktionalitat (Studien zur Deutschen Literatur)", die 1967 im Max Niemeyer Verlag erschien und durch den Kritiker Hans Mayer im Literaturblatt der FAZ ihre Würdigung fand. Streicher schreibt seit 1974 Lyrik und Kurzprosa und ist Mitglied der IG Medien. Seine dichterischen Motive sind stark gekoppelt an seine eigene Psychosomatik, die Gedichte setzen aber kein spezielles Wissen zu ihrer Erschließung voraus: jedes Gedicht erschließt sich in seiner Durchführung. Insgesamt veröffentlichte er 24 Bücher (inklusive der Dissertation), darunter 14 mit Prosa und 9 Gedichtbände in verschiedenen Verlagen, von denen derzeit nur noch 4 (im österreichischen Wolfgang Hager Verlag) erhältlich sind. In seinem Debutband "Ohne Psychologie" (Scherpe Verlag, Krefeld) sind bereits 1974 zahlreiche Hauptmotive angelegt, die sich bis heute wie ein Leitfaden durch sein gesamtes Werk ziehen - geradezu programmatisch wirkt schon der damalige Text "Das Gedicht ist schmal geworden", mit dem der Debutband endet:
Das Gedicht ist schmal geworden.
Sein Leib ein Leib,
der nirgends unterkommt;
seine Seele eine Seele,
die an alle verteilt ist.
Der Leib widersetzt sich nicht,
wenn sie das Messer in ihn treiben;
die Seele nicht,
wenn nur wenige Sätze für sie übrigbleiben.
Das Gedicht ist schmal geworden.
Sein Leib ein Leib,
den alle schwächen,
und von dem alle erwarten,
daß er stark bleibt.
Auf diesem Paradox beginnt es zu tanzen.
Von Assoziation zu Assoziation
setzt es sich aus
der Gewalttat der Dinge,
an die es stößt,
nimmt unerotisch
sie in sich hinein,
während es linkisch
die Seele angeht,
durchsichtig im Protest
und aufzehrend den Leib
im reinen Programm.
Aber zuweilen gedenkt es des Prunkes,
mit dem die Frau
in die Unterwelt stieg,
gedenkt es der Mythe
Eurydike,
in ihrem Namen zusammenziehend
noch einmal die ersten
tausend Sätze über die Seele,
gedenkt es im reinen
Reim des Geschlechts
und der tausend Entsprechungen,
die aus ihm kommen;
aber da ist der neue Schnitt,
und vor Schmerz streift es
das Erotische ab,
und übrig bleibt
das Schnittbewußtsein,
zuweilen mit Pausen,
nur du, nur du.
Das G&GN-Institut präsentiert weitere 7 ausgewählte Gedichte aus dem aktuellen Band "Utopie und Musik" von 2013 auf der Nahbell-Hompepage sowie bei Twitter und Facebook:
- www.LYRIKSZENE.de & www.POESIEPREIS.de
- https://twitter.com/poesiepreis
- www.facebook.com/POESIEPREIS
Liste aller 9 Gedichtbände:
- Ohne Psychologie, Gedichte, Scherpe 1974
- Chromatik: Lyrische Übungen, Bläschke 1978
- Rondo, Gedichte, Lehmann 1979
- Modulationen, Gedichte, Lehmann 1981
- Privates Pfingsten, Lyrik, Otto 1997 (Hager 2012)
- Transparenz, Lyrik, Otto 1999
- Gang und Schlaf, Lyrik, Otto, Offenbach 2000
- Nerventheater, Gedichte, Hager 2008
- Utopie und Musik, Lyrik, Hager 2013
Liste aller 14 Prosawerke:
- Konstruktion, Prosa, Bläschke 1982
- Gang durch den Nebel, Monolog, R.G. Fischer 1986
- Die unendliche Kadenz, Kurzprosa, Lehmann 1988
- Beifall, Kurzprosa, Hager 2003
- Kulissen, Kurzprosa, Hager 2004
- Land ohne Spiegel, Kurzprosa, Hager 2005
- Der Schrei, Erzählungen, Hager 2006 (Otto 2001)
- Ich bin, der ich bin, der ich bin, der ich bin, Monologe und Dialoge, Hager 2007
- Der Rahmen, Erzählungen, Hager 2007 (Otto 2002)
- Unsere Delegierten sind schön, Hager 2009
- Das letzte Publikum, Erzählungen, Hager 2010
- Der Choral, Erzählungen, Hager 2011
- Narzissmus für alle?, Prosa, Hager 2013
- Der kleine Dämon des Dazwischenredens und andere Geschichten, Hager 2014
Autorenseite auf amazon:
www.amazon.de/Wolfgang-Streicher/e/B00JIPOFEU
Da die meisten seiner Bücher derzeit gar nicht (oder nur antiquarisch überteuert) erhältlich sind, empfiehlt es sich, direkt beim Verlag anzufragen, welche Werke lieferbar
sind:
www.wolfgang-hager-verlag.at (Email: wolfgang.hager[ätt]aon.at)
"Die Sonne steht im Zenit. / Selbst die Traurigsten der Dichter / werden heiter. / Zeit für Hauptsätze; / Metaphern sterben ab." © W.S. 2013
"Du löscht diese Stellen / Stelle für Stelle, / Punkt für Punkt, / Glück für Glück / und ersetzt alles / durch einen Text, / der etwas Mystisches hat, / jedenfalls psychologiefrei / zu denken
ist." © W.S. 2013
"Kein Text ist immer mit sich selbst identisch. Er kann verschwimmen, wenn sich ihm ein Nervenleidender naht. Er fasst sich wieder zusammen, wenn dieser sich wieder entfernt. Und doch gibt es den Wunsch, ihn mit sich selbst identisch zu sehen, ein Wunsch, den man als klassisch bezeichnen könnte. (...) Der Mystiker möchte mit Gott ganz eins sein und in diesem Einssein den Befehl empfangen. Der Mystiker fühlt sich zugleich völlig leer und völlig erfüllt. (...) Der Nervenleidende hat nicht immer die Kraft, sich in das Mystische einzufühlen. Diese Einfühlung braucht Kraft. Mystik kann nervenberuhigend und nervenantreibend sein, je nach Nervenlage. Nicht immer kann sich diese in Mystik einfühlen. (...) Der Nervenarzt sieht sofort, dass der Text ambivalent ist, dass er zwar für einen Nervenleidenden schwerer verständlich ist als für einen Gesunden, dass aber die Mischung aus Religiosität und Ironie nicht aufzulösen ist. (...) Die Zeit, wo Mystik in mein Nervensystem eindrang, wo die Frage Text und Nerven im Raum stand, ist vorüber. Heute weiß jeder, was ein Mystiker ist. Dieser wirkt nicht mehr auf Nerven; von meiner Nervenkrankheit ist, wie gesagt, nicht mehr die Rede. Und doch war die Zeit, wo ich, der Mystiker, von seinen Nerven eine Interpretation erwartete, ein Glück, ein Glück, das vergangen ist und das so schnell nicht wiederkommen wird. (...) Der Mystiker leidet nicht, er ist kein Gottessohn, der die Menschheit erlösen will; er und sein Gesicht sprechen nur für sich. (...) Die Frage nach Religiosität und Parodie ... tritt wieder ins volle Rampenlicht. (...) Natürlich nehme ich Psychopharmaka zu mir, versuche, Mystik mit ihnen aufrecht zu erhalten, aber diese löst sich allmählich auf: ich bin Mensch unter Menschen und weiter bedarf's nicht."
© Wolfgang Streicher 2010