"Aber das Reden geht mir leicht von der Zunge, und der Sinn drückt sich nicht nur in Worten aus, sondern auch in Pausen, in Gesten und im Tonfall, den man auf dem Papier nicht wiedergeben kann. Dies ist eine Kunst, in der ich nie ausgebildet wurde. Sie überkommt mich einfach, als wäre ich von einem Geist besessen."
Alan Watts, in: ZEIT ZU LEBEN (1972)
Tom de Toys, 8.7.2005
"Free Word Jam" als ARATIONALER AUTOMATISMUS
(Versuch einer Beschreibung eines paranormalen Sprechphänomens)
Von 2000 bis 2002 stand ich fast 2 Jahre lang konsequent jeden Monat bei POETRY SLAMS auf der Bühne, wie z.B.
im Prater-Club "Bastard" (Veranstalter: Wolfgang Hogekamp), und konnte die gruselige Inflation des Slambegriffs hin zur unpolitischen Comedy mitverfolgen (inzwischen gibt es immerhin auch
gesellschaftskritischen Slapstick & jungen engagierten Hiphop). Auch ich erntete den meisten Beifall mit eigentlich aus misanthropischem Zynismus geborenen (nach dem Motto "keine Perlen vor
die Säue") spontanen freien Improvisationen, die das amüsierte Publikum als leichte literarische Häppchen zu Bier und
Zigaretten und anderen Drogen konsumierte - "ernste Lyrik" war nicht gefragt, allerhöchstens manieristische Billigreime.
Der "National Slam" in Hamburg 2001 (ich gehörte zum Berlin-Team) entpuppte sich hierbei für mich als Sahnehäubchen auf diese perverse Entwicklung, zumal dort spätpubertäre COMEDY-LITERATUR als vermeintliche "Clubliteratur" präsentiert wurde. Der Gewinner war dann noch dazu ein professioneller Kabarettist (und als solcher wirklich gut): Sebastian Krämer, der später Xochils Südslam in der Scheinbar übernahm! Ich entschied mich ein wenig irritiert und frustriert, die Slambühnen fortan zu meiden und stattdessen meine abendfüllenden POEMiE-Shows (mit Musik & Videobühnenbild) auszuarbeiten. Als offiziell letzten Slamauftritt nutzte ich die Einladung zur Teilnahme beim SWR-Sommerfest in Karlsruhe (im ZKM-Foyer) im Sommer 2002, wo ich zu meinen abschließenden Worten "Der Slam ist tot, der Kasperle lebt wieder!" (in Anlehnung an das berühmte Dada-Bonmot von Hans Arp: "Der Kaspar ist tot") von der Bühne gebuht wurde... Unerwarteterweise entdeckte ich allerdings durch diese Ablehnung von kritischen Texten und meine dadurch initiierte Slam-Aversion mein Talent zur telepathischen Textimprovisation (anfangs glaubte mir keiner, daß es sich NICHT um fertig vorbereitete Texte handelte, was mir fast peinlich war) und betreibe DAS seitdem mit gleichgroßer Freude wie das Vorlesen von echten Gedichten.
Und die seltsame Ironie des Schicksals ist nun, daß ich schließlich im Mai 2005 ausgerechnet unter der Moderation von Sebastian Krämer (der ja für mich quasi zum Symbol der Slamsatire wurde) doch wieder an einem Slam teilnahm, weil die österreichischen Kollegen melamar & Christian Schreibmüller zu Besuch waren und ich einfach nur Lust hatte, einen netten Abend mit ihnen zu verbringen.
So landeten wir in der Scheinbar und ich erzählte dem Publikum nach einigen zähen Sekunden (in denen ich nach Worten IN DER LUFT suchte, was man wohl witzig fand, obwohl es sich um eine NOTWENDIGE "schamanistische" Technik handelte) nichts anderes als das, was ich in exakt dem Moment direkt empfand, nämlich wie es sich anfühlt, wenn zwischen den einzelnen BUCHSTABEN große Lücken im Bewußtsein entstehen - Warteschleifen auf der Zunge, die jeden nach und nach eintreffenden Buchstaben zu einem geschmacklichen Großereignis machen. DAS fand das Publikum wirklich amüsant, ja gradezu komisch, zumal ich mal wieder UNABSICHTLICH Grimassen zog (eine absolut natürliche Folgeerscheinung der Kon-ZEN-tration auf den telepathischen Textfluß!!!) und mich dadurch ungewollt zum Komiker degradierte - obwohl es sich hier in Wirklichkeit um eine absolut authentische synästhetische neurolinguistische Selbsterfahrung handelte, also um einen eigentlich ziemlich intimen TRANSPERSONALEN Prozess, an dem ich das scheinbar naive literarische Volk beiwohnen ließ.
Und wie zumeist gibt es auch hiervon keinen Mitschnitt und schon beim Abgang von der Bühne vergaß ich bereits wieder die taufrische "semispirituelle situationistische Semantik", die paranormale Magie des Momentes war vorbei, ich kehrte zurück in das normale linear-logische Denken und hätte mich am liebsten während des Applauses auf dem Klo versteckt, weil ich mich gar nicht mit dem Blödsinn identifizierte, den ich dargeboten hatte.
Immerhin gibt es nun dank Roman Ploenes (der schon 1993 meine recht normale Lesung des "Ute Uferlos"-Zyklus` in Köln dokumentiert hatte) eine kleine Fotostrecke, die vielleicht ahnen läßt, unter welchem Risiko solche Auftritte stattfinden, nämlich daß einem womöglich NICHTS einfällt (bzw. "zufällt") und man die Bühne wie ein Narr wieder verlassen muß, ohne einen einzigen Buchstaben geschweige denn eine Botschaft ausgesprochen zu haben! In gewisser Weise habe ich mir damit einen Schadensersatz für das fehlende Lampenfieber erfunden, denn beim Ergreifen des Mikrofons bin ich bestenfalls SO LEER IM KOPF, daß ich selber überrascht bin, was genau oder ob überhaupt irgendwas anfangen wird, "durch mich hindurch" zu sprechen. Bisher hat diese Methode glücklicherweise immer mehr oder weniger gut funktioniert (auch im Sinne von "originell"), aber ich fürchte den Tag, an dem es mir wie dem Tänzer in Kleists Marionettentheater ergehen könnte: daß sich mein Ich plötzlich während dieses "paradiesischen" Automatismus` zu früh wieder als Kontrollinstanz einschaltet und den trance-ähnlichen Textfluß willentlich beeinflussen möchte. Das erscheint mir als wirklicher Schwierigkeitsgrad solcher "öffentlichen Übungen": daß man es schafft, total locker zu bleiben, bis sich der Text VON ALLEINE zu einem sinnvollen Ende bringt; denn das ist das wirklich Besondere: es tritt tatsächlich immer wie von Geistermund geführt ein dramaturgisch perfektes Ende ein!
Ein Ende, das sich ganz unabsehbar erst in der Sekunde des Aussprechens als solches offenbart - und einen aufweckt, ja rausreißt aus dieser "Gnade" und wieder auf die normale irdische Ebene der niederen Bewußtseins-Schaltkreise zurückholt. Das klingt verrückt, ja ich weiß. Möge man mir verzeihen, daß ich nur derlei esoterisch-pathetische Formulierungen dafür finde. Ich bin ja kein Psychologe, ich bin nur ein Dichter und autodidaktischer Selbstläufer...