Free Word Jam: "DAS TAO DER POESIE"

G&GN-INSTITUT NEUKÖLLE 30.4.2011 / Anläßlich des traditionellen Kulturfestes auf der Kreuzberger Oranienstraße am ersten Mai wurde die autorisierte Abschrift der spontan improvisierten Antiprosa "DAS TAO DER POESIE" von Tom de Toys (Live-Erfindung gemäß seiner "FreeWordJam"-Methode in Anlehnung an Kleists Theorie der "allmählichen Verfertigung der Gedanken") als Gast von "Vier im roten Kreis" in der Berliner Schillingbar hier im neuen G&GN-Archiv bereitgestellt. Dem vollständigen 12-minütigen Videomitschnitt (mitsamt alkoholisierter Off-Kommentare) des N.A.N.-Mitglieds Felix Watt ist es zu verdanken, daß dieses satirische Stück Off-Weltliteratur, in dem das Bonmot "FÜR ALIENS IST JEDER TAG IM UNIVERSUM ERSTER MAI!" live on stage erfunden wurde, überhaupt existiert...

VIDEOMITSCHNITT: NEUE VOLLSTÄNDIGE VERSION!!!

 

"Als braver Viktorianer scheint Freud niemals an die Möglichkeit gedacht zu haben, daß in freien und vitalen Menschen animalische Lust und intellektuelle, künstlerische, ja religiöse Erfahrungen durchaus harmonisch miteinander leben und sich ergänzen können, so daß der von ihm so scharf gesehene Konflikt zwar geschichtliche Realität besitzt, keineswegs jedoch unlösbar und unüberwindbar ist. Reich wiederum scheint, wie alle Naturalisten im Fahrwasser Rousseaus, nicht die Gewalt, die Brutalität, das grausame Leiden und die Indifferenz zu sehen, die das organische Leben von seinen frühesten Anfängen an verwundet und zerrüttet haben, wie es die großen 'Pessimisten' von Buddha bis Schopenhauer und Leopardi mit soviel Mut gezeigt haben.  Freud wie auch Reich verdrängten, jeder auf seine Weise, den Tod als eine spezifisch menschliche, durch Erinnerung, Anteilnahme und die Gewißheit des Kommenden intensivierte Angst aus ihrem kritischen Horizont. (...) Es ist unglaublich, wie wenig Beachtung die Humanwissenschaften dieser Flut von Angst, Panik und Verzweiflung schenkten, welche die Psyche des menschlichen Affen überschwemmte, seitdem er seine typische, tragische Eigenschaft entwickelte, sein tödliches Schicksal vorauszufühlen, in gesundem oder krankem Zustand den Tod zu vergegenwärtigen, ihn zu erwarten, seine Anwesenheit in jedem Augenblick zu argwöhnen, an der Agonie und dem Tod der geliebten Personen schmerzvoll Anteil zu nehmen und diese tägliche Qual in der Erinnerung, in Trauer und angstvoller Voraussicht zu wiederholen. (...) Im Gegensatz zu Schopenhauer akzeptierte Nietzsche nicht die buddhistische Konsequenz, daß, wenn das Leben Leid ist, die einzig mögliche Antwort in der Verneinung des Willens zum Leben liege. Hier ist anzumerken, daß Nietzsche schon als junger Mensch vielerlei Leiden erfuhr (schreckliche Migräneanfälle, periodische Blindheit, soziale Isolation, Frustrationen und Erniedrigungen in der Liebe), die ihn dreimal zum Selbstmordversuch trieben. Doch war seine Antwort die eines ungezähmten menschlichen Affen, der, vom existentiellen Schock gepeinigt, heroisch und verliebt das Leben über alles körperliche und seelische Leid hinweg wiederbestätigt. Eine Wiederbestätigung, die sich aus einem schöpferischen Denken speist."

Luigi De Marchi: DER URSCHOCK (1984)

 

 

Tom de Toys, 9.3.2010 (Abschrift des 12 min "Free Word Jam")

DAS TAO DER POESIE


guten abend! hier ist das deutsche fernsehen mit den poesieweltnachrichten! BERLIN: wie erst heute bekannt wurde, hat sich bereits vorgestern ein junger mann aus friedrichshain suizidiert. jegliche hilfe kam zu spät. wie die polizei mitteilte, drang ein notarzt, der drei stunden später gerufen wurde, in die wohnung ein, mit einem arztkoffer, der randvoll mit gedichten gefüllt war. unter den gedichten befanden sich texte von sämtlichen klassikern der menschlichen rasse sowie topaktuelle zeitgenössische gedichte von sogenannten jungautoren. der notarzt, wie dem bericht der polizei entgeht, stopfte das maul der sterblichen reste des selbstsuizidierten jungen mannes mit poetischem papier. diese recht neue medizinische methode, die noch im experimentellen stadium ist, erwies sich hier als unzureichend. der junge mann konnte nicht in DAS LEBEN zurückgerufen werden. er schlug die augen nicht auf. auch nicht das gehirn. wie die polizei weiter berichtet, handelt es sich hier nicht um einen einzelfall. bereits in den 50er-jahren gab es in peru und auf ibiza ähnliche fälle. der damalige wissenschaftliche stand der dinge erlaubte es jedoch nicht, den sterblichen überresten papier ins maul zu stopfen geschweige denn papier, das mit gedichten bedruckt war. ein notarzt landete deswegen deshalb hinter gittern. oh, mir wird grad ein ticker zugeschoben: der notarzt, der in ibiza damals erste hilfe leistete, ist inzwischen wieder auf freiem fuß - nach fünfzig jahren! er ist 90 jahre alt und beherrscht die gesamte poesie der menschlichen rasse auswendig. wir versuchen noch einen kontakt zu ihm herzustellen via internet. wie ich erfahre, hat er sich per skype in die weltnachrichten zugeschaltet. der fall des jungen mannes in friedrichshain ist aus zivilisatorischer sicht eine katastrophe größten ausmaßes. dieser mann hat sich mangels richtiger poesie suizidiert und konnte mangels richtiger poesie nicht mehr ins leben zurückgerufen werden. eine debatte unter literaturkritikern, germanisten ersten ranges der gesamten deutschen universitätslandschaft, hat den anfang des satzes vergessen und führt ihn deshalb nicht mehr fort. eckige klammer zu. HAITI: wie erst heute bekannt wurde, handelt es sich bei den plünderungen in den supermärkten auf haiti oder in haiti -je nach geschmack- nicht um einheimische, sondern um aliens. das bekanntwerden dieser erstaunlichen tatsache nach 2 wochen andauernder plünderungen liegt daran, daß erst vorgestern zufällig ein bekennerschreiben in einem geplünderten supermarkt gefunden wurde. dieses bekennerschreiben war unterzeichnet mit einem grünen, glitschigen daumenabdruck, den die polizei zunächst als daumen interpretierte, dann aber die sterblichen überreste eines aliens in ähnlichem farbton vorfand, dunkelgrün inzwischen [ALIENS LEUCHTEN NEONGRÜN IM LEBENDEN ZUSTAND, WIE WIR ALLE WISSEN - klammer zu]. HEIDELBERG/HANNOVER: wie die kriminalpolizei erst heute bekannt geben konnte, gibt es einen erstaunlichen zusammhang zwischen dem suizid des jungen mannes aus friedrichshain und den plünderungen auf haiti. eckige klammer auf: der ganzkörperscann sowohl der mutter als auch des vaters des sich selbst suizidierten jungen mannes ergab eine erstaunliche tatsache: normalerweise erscheint der menschliche umriss in einem ganzkörperscann in einem hellblauen farbton. die eltern des friedrichshainers sind neongrün leuchtend. oh, ein anderer ticker kommt grade hier rein: bei dem jungen mann in friedrichshain wurde ebenfalls ein bekennerschreiben gefunden, übertitelt mit "Kosmischer Abschiedsbrief". er enthielt nur einen einzigen satz: "FÜR MICH WAR JEDER TAG ERSTER MAI." der zusammenhang zu den plünderungen wurde immer offensichtlicher. auch das bekennerschreiben der aliens auf haiti oder in haiti enthielt, wie man erst mit zitronensäure feststellen konnte (da es mit unsichtbarer tinte geschrieben war), folgenden vermerk: "FÜR ALIENS IST JEDER TAG IM UNIVERSUM ERSTER MAI !" nun ermittelt die polizei in 3 fällen, die sich vermutlich auf 1 einzigen fall konzentrieren. es ist noch nicht klar, wer die drahtzieher hinter diesen ominösen vorgängen sind. eins steht allerdings schon heute abend fest: die poesie der menschlichen rasse hat total versagt !!! und hiermit verabschieden wir uns von den poesieweltnachrichten und wünschen ihnen noch einen friedlichen abend auf diesem planeten.

 

SCHILLINGBAR (c) De Toys, 15.3.2010 @ Reuterkiez (Berlin)
SCHILLINGBAR (c) De Toys, 15.3.2010 @ Reuterkiez (Berlin)
URSCHIZOPHRENIE (c) De Toys, 27.4.2010 (Vivantes-Krankenhaus, Planufer)
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