Lord Lässig
Auf den ersten blick erscheint mir der begriff einer Sozialen Poetik als exakte verdrehung der anspielung auf die Soziale Plastik des Joseph Beuys. Denn während ja damals DAS
PLASTISCHE MOMENT den visionären gesellschaftsbegriff als "von innen heraus gestaltet" (im gegensatz zur skulptur, die durch wegmeißeln von außen übrig bleibt) künstlerisch näher definieren
wollte, quasi als bewegliche masse kreativ erwachter individuen, soll doch im falle der aktuellen poetik wohl eher eine spezielle poetik, nämlich eine, die DAS SOZIALE MOMENT betont, gesucht
sein, so daß die poetik quasi wie ein formaler rohling vorausgesetzt wird und nun in eine bestimmte denkrichtung entwickelt werden müßte, um sozial zu wirken oder gar soziales zu bewirken, indem
ihre beispiele, real-existente gedichte, den leser bestenfalls derart beeinflussen, daß dessen asoziale tendenzen eben durch lesen sozialer poesie therapiert würden. Aber kann das mit Sozialer
Poetik gemeint sein, kann von poesie überhaupt derartiges verlangt werden? Es wurde schon oft eingefordert und hat sich leider nie wirklich erfüllt. Die "rebellischen" tendenzen
historischer poetiken mit sozialem impuls waren zwar ausdruck von zeitkompatiblem lebensgefühl oder begleiterscheinung von unzeitgemäßen avantgarden, aber selbst ihre besten gedichtbeispiele
konnten die welt nicht nachhaltig verändern, sondern nur einigen wenigen als seelischer support dienen. Was also könnte und sollte eine Soziale Poetik heutzutage darstellen? Ich bin
gespannt, welche ansätze die 3 gäste im salon des amateurs gleich präsentieren und ob sie den spieß vielleicht umdrehen und nicht das soziale suchen sondern sich mit derselben logik wie der
beuysianische begriff fragen: was ist DAS POETISCHE MOMENT am sozialen, inwiefern lässt sich die gesellschaft poetisch definieren, oder: kann die gesellschaft real-utopisch poetisiert werden? Der
zweite blick stellt sich bereits ein, während ich auf einem gemütlichen schwarzen ledersofa sitzend den 5 diskutierenden lausche: sie thematisieren REINGEISTIGE labyrinthisch-literarische
abstraktions- und transzendierungsprozesse, durch die sich das ich in provisorisch-ideale begriffe einbettet, mithilfe derer die welt in jeweiliger weise wahrgenommen wird. Dabei fallen mir zwei
wohlvertraute selbstlügen auf: die identifizierung des ichs mit einem BEGRIFFSOBJEKT anstatt mit sich selbst als vorsprachliches seinsgefühl, wie es von Alan Watts schon taoistisch erläutert
wurde. Und andererseits der neurobiologisch längst ad absurdum geführte irrglaube, die welt sei tatsächlich so, wie wir sie denken, weil sie in echt immer nur eine interpretation unserer
geistigen haltung darstellt anstatt ichfrei beschrieben werden zu können. Dadurch relativiert sich jede weltsicht, sei sie nur individualistisch originell oder sogar kollektiv abgesegnet, als
zeitgeist, bewegung, partei oder poetik einer generation, kunstrichtung oder epoche. Die frustration über die wechselnde weltsicht des sich verwandelnden ichs (bzw des kostüms, in das es
sich kleidet) fördert eine subtile sehnsucht nach einer ERFAHRBARKEIT SEINER SELBST (AUCH IM LITERARISCH PROJIZIERTEN VIRTUELLEN SPRACHRAUM) unabhängig von modischen strömungen, stilen, begriffen
und denkrichtungen jeder coleur, also das bedürfnis nach einer geradezu "asozialen" poetik, die ich sogar als autistisch bzw antiparadiesisch anstatt utopisch bezeichnen würde. Die
sprache als rein pragmatischer konsens über einige ausreichende wörter ermöglicht kommunikation als spontane kommunion ebenso wie der nonverbale direktsinnliche austausch von handlungen, gesten,
mimik und im speziellen erotischen zärtlichkeiten. DAS INTERAKTIVE MOMENT sorgt entscheidend dafür, inwiefern wir das gegenüber, sei es der echte mensch oder seine poesie, nachvollziehen oder gar
verstehen können. Mit interaktion fängt das neue paradies überhaupt erst an zu atmen! Der eintritt über die Kleistsche hintertür GESCHIEHT AUTOMATISCH in jedem moment einer restlosen begegnung
zwischen dem kostümierten ich und dem dazu passenden maskenball. Tanzschritte werden zuhause geprobt (wie auch immer sich heimatgefühl bei jedem einzelnen im raumlosen ich anfühlt), angewandt (im
real-interaktiven raum) und korrigiert (ideologien, dogmen, moralvorstellungen, tabus und poetologien moduliert), manchmal der falsche event wieder verlassen (das felsenfeste ich bleibt seinen
idealen dann stur treu), um ziellos durch die straßen (=sprachen) zu streunern, bis irgendwo in der wüste der seele eine neue oase am horizont auftaucht, die sich erst bei konsequenter ankunft in
ihrer absoluten nähe als fatamorgana erweist. Diese entdeckung der auflösung aller objekte aus allernächster nähe ist mittlerweile eine interdisziplinäre erkenntnis, die jedes
nachgeborene ich erstmal in seiner selbstwahrnehmung erreichen muß. Hier treffen neurobiologie, astronomie und quantenphysik auf die gesamte bandbreite der individualpsychologie von
historischen mythen über die aufklärung, die sehrspätmodernen ich-kulte bis hin zu transpersonaler mystik und postmoderner psychosynthese mit ihrer "leeren mitte" als neuen ausgangspunkt für ein
integrales ich-empfinden, das KEINEN LITERARISCHEN (SYMBOLISCHEN) RAUM mehr benötigt, um sich als lebendiges leben direkt zu definieren! Wer die geschichte der literarischen strömungen und
dogmatischen anmaßungen als individualpsychische prozesse studiert, wird überrascht feststellen, wieso wir so manchen skandal nachträglich als lächerlich oder trivial empfinden: hinter den
akademischen scheingefechten verstecken sich einzelne leidende sinnsucher (das große tabu aller roboter!), die ihre beuysianischen wunden nicht zeigen können und jede narbe stattdessen
strategisch vergolden. Denn die psychologische schnittstelle zwischen biografischem erkenntnisprozess und literarischer verallgemeinerung wird immer noch elegant hinter gefeierten worthülsen
verschleiert, die professionell und seriös genug klingen, um die persönliche seelisch stimulierte betroffenheit der autoren in einer sprachverliebten selbstinszenierung neologistisch zu
sublimieren (wie in den lyrischen hyperreflexionen eines Oswald Egger noch eigenweltlerischer deutlich wird als in den am banalen alltag orientierten honigprotokollen einer Monika Rinck).
Daß keine einzige thematische und stilistische inspiration ohne die tabuisierte psychografische motivation souverän in das akademische betriebsklima einfließt, scheint weiterhin nur
neurologen, psychiater und posthume biografen interessieren zu dürfen, selbst (oder vorallem) wenn die neurotischen muster der kreativen impulse zu antihermetisch hervorstechen und das werk zu
entzaubern drohen. Nur backstage darf von den insidern höchstselbst hinter vorgehaltener hand über des kaisers neue kleider geschmunzelt werden, aber die etiketten on stage müssen ihr
pseudoprestigeträchtiges eigenleben entwickeln und dann verteidigen, wie jedes label der modebranche bemüht ist, die firma durch alle saisontrends hindurch ins nächste jahrzehnt hinüber zu
retten. Wenn die etikette anachronistisch anmutet, erhält sie ein lifting, um markttauglich zu bleiben. Und so wird aus dem historischen surrealismus ganz leicht ein innovativer fotorealismus,
ein noch progressiverer poprealismus und irgendwann ein metarealismus und nach dem infarkt wieder ein sozialer realismus (damals bekannt als "expressionismus"), der psychologisch dasselbe
surreale muster bedient wie die klassische avantgarde, aber aufgrund der oberflächlich NEUEN PHÄNOMENE auch als tiefgreifend innovativ inszeniert werden kann. Design ist das wahre
hurzgesicht der dichter, die DAS HUMANISTISCHE MOMENT ihrer werke hinter formaler komplexität und stilistischer feuerfestigkeit verschleiern, weil sie sogar von sich selbst peinlich berührt sind,
wenn sie ihr seelisches gesicht hinter den masken verraten. Fast könnte man meinen, die auseinandersetzung mit der eigenen autorenschaft fände nur auf einem sublimierten niveau statt,
das sich nicht als person zu persönlich thematisieren darf, wenn der dualistische glanz "objektiver" (antipsychischer) hochliteratur für das prestige in der medialen öffentlichkeit gewahrt werden
soll, obwohl jeder weiß, daß der kaiser nackt ist, genauso wie die mystik der werke von großartigen ausnahmedichtern wie Ernst Meister eben KEINE SEKUNDÄRHERMETIK benötigt sondern die wahre kraft
seiner kurz angebundenen worte erst durch ihre humanistische trivialisierung auf den bereiten, ja suchenden leser voll wirken kann! Das zeichnet ein gutes, soziales gedicht eigentlich
aus: daß es WIRKT, nämlich die SEELE DES LESERS berührt, dessen lebensgefühl nachhaltig beeinflusst, in eben derselben direkten weise, wie sich der dichter beim schreibvorgang selbst durch sein
eigenes gedicht auch psychisch (und damit auch weltanschaulich) verwandelt hat. Die neuronale auswirkung der wörter ist der entscheidende maßstab für die persönliche qualität eines
textes, unabhängig vom stil und dem gewählten thema. Weder die form eines sonetts noch dessen sensationistischer inhalt sind kriterien "an sich" für das sterile prädikat 'wertvoll',
'authentisch', 'innovativ', 'originell' oder 'zeitgemäß', sondern die emotionale bedeutung des werkes im öffentlichen konsens einer demokratischen mehrheit zu einer bestimmten zeit. Sogesehen
hätte der soziale wirkungskreis von Allen Ginsberg, Eva Strittmatter und Jacques Prévert den nobelpreis weit eher gerechtfertigt als die zwei dünnen gedichtbände des Tomas Tranströmer, der noch
viel "schwieriger" zu lesen ist als Ernst Meister, und den niemand außerhalb des literaturbetriebes vor der verspäteten reputation kannte. Hier beißt sich die schlange in ihren eigenen schwanz
und das problem der verbalen gratwanderung zwischen der dynamik des psychischen und des lyrischen ichs gewinnt oberhand, wie es im laufe der diskussion aus philosophischer UND quasipsychotischer
sicht von den gästen aus erster hand angedeutet wurde, was mich schlußendlich beruhigte, denn so zeigt der angeblich soziale begriff einer "erweiterten" poetik, die wegen des persönlichen
herstellungsprozesses auch als Psychoide Plastik definiert werden darf, das unvermeidbar menschliche antlitz der dichtung, die eben nicht willkürlich von einem computerprogramm generiert wird:
die verzweifelte suche des autors nach wörtern IM SICHTFELD SEINER EIGENEN WAHRNEHMUNG beider seiten der baren münze (welt & seele), mithilfe derer das angestrebte gedicht "aufgebaut" werden
soll. Rilke hat demgemäß vielleicht doch "zu viel" seele im werk, während die rein deskriptive neuere popliteratur aus dem hause adlon "zu wenig" seele zeigt. Als harmonische mischung
aus beiden komponenten wirkt manch ein text von Rolf Dieter Brinkmann auf mich, aber auch völlig entgegengesetzte autoren wie Antonin Artaud in seinem theater der grausamkeit, wenn er seine
eigene seelendramatik instinktiv im vergleich mit der gesellschaft analysiert, die er als gift für den geist empfindet: "Denn die Wirklichkeit ist nicht vollendet, / sie ist noch
nicht konstruiert. / Von ihrer Vollendung hängt / in der Welt des ewigen Lebens / die Rückkehr einer ewigen Gesundheit ab. (...) Das Leben / ist nicht aus einer intellektuellen Herrlichkeit, /
noch aus der spirituellen Schönheit der Einfachheit, / noch aus der objektiven und konkreten Schönheit der Einfachheit, noch aus der Einfachheit selbst geschaffen worden, / sondern dahinten und
entfernter / aus Fleisch, / ohne Räsonieren und ohne Bewußtsein, / wo es nichts gibt, / / und das IMMER so sein wird. //" Mit diesen leicht wahnsinnigen zeilen im kopf laufe ich von
der kunsthalle zur ubahnstation Heinrich Heine allee und bemerke, wie anregend der abend im salon des amateurs für mich war, obwohl sehr viel offen blieb oder noch nicht einmal angedeutet wurde.
In diesem verunsicherten sinne möchten mein hier vorliegenden live-reflexionen ein wenig dazu beitragen, den nachhaltigen wert der veranstaltung schon jetzt in gewisser weise hervorzuheben und
dem germanistischen drahtzieher Enno Stahl dafür zu danken, in diesen sozial-allergischen und dabei zugleich sozial-hysterischen zeiten eine lesung organisiert zu haben, die geradezu nach
metasozialer fortsetzung schreit, um mit dem finger in der nächsten wunde zu bohren...
Fortsetzung: METASOZIALE ANTIPOETIK, Teil 2 (19.11.2013)