DAS SATZ-ICH UND DAS SELBST-ICH


Tom de Toys, 9.10.2013

SATZUNGSPUNKT

ICH
LIEBE
DIESEN
SATZ .


das problem der sabotierten und dann doch wieder zurückeroberten externen identitätsebene in allen sätzen, die mit dem wort "ich" beginnen: die boykottierte metaebene macht diesen satz erst genauso unmöglich wie möglich, weil das paradoxon vernichtet wird, das zur verwechslung führt, wenn ich sage: ich liebe diesen satz. denn ICH LESE diesen satz. ich bin NICHT dieser satz. denn ich bin das ich, das diesen satz liest. weil ich diesen satz lese, liest DAS ICH diesen satz. dieser satz existiert nur durch mich, der ihn liest. ich bin daher sowohl das geschriebene ich dieses satzes als auch das lesende ich von der realität außerhalb dieses satzes. wenn ein computer den satz schreibt "ICH BIN DIESER SATZ", so sagt das noch lange nicht, daß der computer darüber bescheid wüßte, daß es eine realität außerhalb seiner sätze gibt. solange ich derjenige bin, der den satz schreibt, befindet sich das seiner selbst bewußte schreibdenksystem außerhalb des computers an dessen tastatur. wenn dieses ich außerhalb des satzes den satz liest, bringt es sich selbst durcheinander, weil es gezwungen wird, das ich in dem satz mit seinem eigenen ich zu verwechseln, was aber unmöglich geht, da hier behauptet wird, daß irgendein ich seinen eigenen ich-satz zu lieben imstande wäre. das wort ich wird absurderweise in einem atemzug für zwei verschiedene sachverhalte verwendet: das grammatische ich innerhalb der realität des satzes und das identitäre ich des lesers, daß diesen satz krampfhaft zu lieben versucht, weil ihm genau das beim lesen angeblich abverlangt wird. wenn nämlich das lesende ich alle 4 wörter erst nach und nach lesen könnte, ohne das nachfolgende wort vorher zu kennen, geriete es in einen emotionalen hinterhalt, der ihm die selbstliebe des geschriebenen ichs zu seiner eigenen aussage aufzwingen wollte. die LIEBE als stärkstes gefühl, dessen sich jedes ich gerne bewußt wird, verführt dieses ich dazu, sich beim lesen der ersten 2 wörter "ICH LIEBE" bereits so tief für alles kommende herzugeben, daß der nun folgende mangel an echten objekten der liebbarkeit die hinterhältigste, menschlich zutiefst deprimierende schocksekunde provoziert, derer ein mensch überhaupt zu erleben fähig ist: die GRAMMATISCHE TOTALVERWEIGERUNG eines objektes der liebe außerhalb des sich selbst liebenden satzes verlangt von dem mutigen, grundmotivierten, sehnsüchtigen, hoffnungsvoll in erwartung eines paradiesisch schönen inhaltes den satz lesenden ich, daß es sofort ohne umschweife bis an den anfang des satzes zurückkehrt und das lieben soll, womit der satz nämlich begann: dieses grammatische ich, das also nun nicht mehr identisch zu sein scheint mit dem ich desjenigen, der dieses wort ich liest, und dabei sich selber gemeint fühlte. stattdessen entsteht eine kurve im denken, ein rückbiegen und verbiegen des geistes zu einem kreisel der innersten, schrecklichsten, unlösbarsten verzweiflung, die durch die erfindung des ichs überhaupt erst entstand: dieses ich existiert in der realität SOWOHL als das echte ich desjenigen, der zu sich ich sagen kann, ALS AUCH als jenes geschriebene ich, das nur das WORT für das echte ich darstellt! aber das wirklich gemeinste, ja unfairste an dieser VERSPRACHLICHUNG DER IDENTITÄT ist die notwendigkeit der erfindung des wortes ich, um das reale ich überhaupt zu betrachten und als subjekt von grammatischen kontexten verfügbar zu machen. so sagt also das ich zu sich selbst erstmal "ich", um über sich selbst eine aussage zu machen, die dann ÜBER das ich wirklich hinausgeht und echte objekte auf sich beziehen kann, weil es als subjekt die möglichkeit hat, von sich auf ein objekt zu zielen und umgekehrt durch das objekt auf das ich hinzuweisen. ein authentisches liebesverhältnis zwischen subjekt und objekt nimmt seinen lauf, ganze romane ermöglichen sich, ganze weltbilder und alle unendlichen variationen an realität, die geschichten schreibt. erst durch die verweigerung des objektes zerstört das geschriebene ich seine eigene möglichkeit zur realen aussage und fragt über den umweg der rückbiegung des satzes auf seinen anfang nur nach sich selbst, ohne sich allerdings lieben zu dürfen, weil es sich bei dem, was geliebt werden soll, nicht um das reale ich außerhalb des satzes handelt, sondern nur um das grammatische ich, mit dem der satz selber beginnt, der sich selbst lieben soll. ein total diktatorischer satz, eine dogmatische falle, in die das reale ich bei der lektüre tappt und sich wie ein schizophrener münchhausen versucht, an den eigenen haaren aus dem morast zu ziehen: bin ich nun ich oder das ich des satzes? soll ich den satz überhaupt lieben oder will dieser satz nur vom grammatischen ich, seinem eigenen subjekt, geliebt werden? warum fühle ich mich von dem satz so sadistisch betrogen? weil ich am anfang die hoffnung verspürte, das wort würde mich, wirklich MICH meinen, der ich doch ICH bin, anstatt nur sich selbst. keiner rechnet mit solch einer unverfrorenen frechheit, zumal es um liebe ging und mit liebe sollte man ebenso wenig wie mit nahrung und geld spielen. insofern ist dieses angebliche 4wortgedicht ein literarischer überskandal, ein metalinguistischer affron, eine verabscheuungswürdige, unmoralische, antihumanistische perversion, die verboten gehört! wäre man wenigstens bei der gemäßigteren aussage geblieben "ICH LESE DIESEN SATZ", hätte der leser bereits bei dem 2.wort ahnen können, in welche falle er tappt, aber ihm nach dem "ich" seinen eigenen liebeswunsch zu entlocken, ihm also durch mißbrauch des wirklich persönlichen, gänzlich intimen, diskreten geheimwissens den schlimmsten streich ohne vorwarnung zu spielen, den man einem mensch antun kann, ist das verachtungswürdigste, ekligste, maßloseste und feindseligste, was man sich überhaupt mit der sprache antun kann! hier wird die sprache als antipoetische waffe gegen den sinn ihrer selbst gerichtet, hier wird der selbstmord der sprache mithilfe des lesenden vorbereitet. der leser mutiert völlig unvorbereitet zum beihilfer des selbstmordes, INDEM er den satz liest und DURCH das lesen vernichtet. die sprache zerfrißt sich, zersetzt sich, sie löst sich beim lesen des letzten wortes wie eine geheimschrift auf, die durch das lesen zur unwiderruflichen unsichtbarkeit verdammt wird. hätte man es bei der freundlichen ausage "ich lese diesen satz" einfach belassen, wäre der leser mit einem dadaistischen schmunzeln davon gekommen, aber so: wird er zur BEIHILFE AM SELBSTMORD DER SPRACHE genötigt und auf seine vorsprachliche ichlosigkeit existenziell zurück geschleudert. der leser wird einfach um sein selbständiges ich beraubt, es wird ihm nach nur 4 wörtern entzogen, verboten und nie wieder zurückerstattet. die einzige notlösung, mit der sich der leser noch aus der emotionalen affäre ziehen kann, ist die TOTALDISTANZIERUNG von der bedeutung der wörter, um gar nicht erst mehr zu erwarten, als von dem antisatz zu erwarten ist, also die nicht-identifizierung mit dem wort ich und die IMMUNITÄT GEGENÜBER DEM WORT LIEBE, um aus dem sicheren abstand des leseroboters den satz mathematisch zu buchstabieren, ohne ihn auf sich selbst zu beziehen. erst jetzt kann sich das scheinparadoxon auf zwei unterschiedliche ebenen aufsplitten und zur erlösung des lesers beitragen. der leser als selbst-ich und das grammatische satz-ich als das zu lesende. das wort für die ursprünglich subjektive identität wird ab jetzt wie ein objekt eingesetzt, "ich" könnte auch auto, körper, apfel, geist und gott heißen und zu formal langweiligen, aber korrekten aussagen führen: das auto liebt diesen satz. körper sind komisch. geist besteht aus fünf buchstaben. gott ist kein wort. denn am ende ist alles erlaubt und nicht nachweisbar falsch oder unmöglich, und doch auf noch gruseligere weise absolut hohl, denn die bedeutung der wörter bleibt auf der rein sprachlichen ebene gefangen. der leser hat sich von der sprache befreit. und das schmunzelnde ich kann jetzt den satz wieder entspannt lesen: "ICH LIEBE DIESEN SATZ", ohne sich selbst zu meinen. das satz-ich hat keinerlei realistischen inhalt geschweige denn irgendwie direkte verbindung zum selbst-ich. es ist auf grammatischer ebene völlig beliebig austauschbar und erschafft eine rein sprachliche realität, die den leser nichts angeht. er hat daher die freiheit, den satz zu genießen, als wäre der lesbare, komplette satz ein objekt außerhalb seiner selbst, obwohl das wort ich darin verwendet wird. diese freiheit ist tatsächlich real, denn der satz IST ja wirklich das vor den augen gegenüber liegende anstatt das, was sich selbst niemals als "gegenüber" erleben kann: das reale ich, das das WORT "ich" nur denkt und spricht und liest, um sich selbst auf seine eigene existenz über den umweg des wortes hinzuweisen. die existenz aber ruht OHNE das wort "existenz" in sich selbst und verzichtet auf alle gedichte, die das authentische selbstgefühl zur verwechslung mit einem lyrischen ich überreden wollen. die einzigen brauchbaren gedichte sind nun nur noch diejenigen, die über echte gefühlswelten sprechen, die über das ich hinausgehen und als objekt wirklich geliebt werden können. das ich ist daher kein wort für gedichte mehr...


De Toys, 12.10.2013 in: sOMatoform 40
"SATZ-ICH & SELBST-ICH"
(in: MEHR JETZT, BoD Verlag 2014)


urdenbach (c) De Toys, 18.2.2015
urdenbach (c) De Toys, 18.2.2015

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