"Ohne Zweifel ging auch die griechische Geschichte durch das Dunkel animistischer Mystik. (...) Eine grundlegende Änderung trat erst durch die homerische
Dichtung ein, die etwa aus der Zeit von 900 bis 700 v.u.Z. datiert. 'Hesiod und Homer haben den Griechen ihre Theogonie (Anschauung von der Entstehung und Abstammung der Götter) gemacht', sagt
der Geschichtsschreiber Herodot, und er hat sehr recht damit. (...) Homer wählte aber nicht nur aus, sondern gab, wie auch Hesiod, 'den Göttern ihre Beinamen..., ihre Ehrenrechte und
Wirkungskreise, wie Herodot weiter sagt. Homer wie auch Hesiod trugen also viel zur Läuterung der alten, oft noch sehr animistischen griechischen Gottheiten bei, sie unterstützten damit die
Herausbildung höherstehender religiös-mystischer Vorstellungen. (...) Wo Babylonier und Ägypter ihre Dämonen beschwören würden, wendet sich der Grieche höchstens um Rat oder Beistand flehend an
seine Götter. (...) Selbstverständlich sind die Griechen trotzdem von einer illusionslosen Welterkenntnis weit entfernt. Das phantastische Element ist nur weitgehend geläutert, lebt aber, in
einer allerdings sympathischen Form, im Götterglauben weiter. Dabei sind die griechischen Götter höchst sonderbare Gestalten. Sie leben bei all ihrer Göttlichkeit so menschlich wie die Menschen
selbst. Sie irren und streiten, schließen Freundschaft und verfeinden sich, lieben, heiraten und hintergehen sich, sterben und erwachen wieder vom Tode. Und dabei sind sie bei aller Göttlichkeit
sogar noch der MOIRA, dem Weltschicksal unterworfen. Wenn diese Moira hier auch ziemlich zurücktritt und nur ganz vom Hintergrunde aus wirkt, so ergibt sich eine weitere bezeichnende Parallele
zur Lebensweise der Menschen darin, daß sie überhaupt vorhanden ist und somit auch die Götter nicht völlig frei sind."
Gerhard Zwerenz: "MAGIE STERNENGLAUBEN SPIRITISMUS" (1956)
"Sucht man nach einem Beweggrund, der den bedeutenden Denkern und Forschern des zwanzigsten Jahrhunderts gemeinsam ist, so wird man ihre Versuche, die Fragmentierung der Welt zu überwinden, als besonders charakteristisch erkennen. Eindringlich hat der vorwiegend an den Universitäten von Princeton und London
lehrende Wissenschaftsphilosoph David Bohm dies zum Ausdruck gebracht. (...) Es steht für mich außer Zweifel, daß David Bohm zu jener Gruppe bedeutender Geister gehört, deren Gedankenwelt der
französische Philosoph Raymond Ruyer in seinem 1974 erschienenen Werk 'La Gnose de Princeton' beschreibt. Die Tatsache, daß er keinen einzigen dieser 'Neo-Gnostiker' beim Namen nennt, mag
tatsächlich daran liegen, daß er um Diskretion gebeten wurde. (...) Man sollte ihm daher getrost abnehmen, daß vorwiegend in den USA lebende Physiker, Astronomen, Kosmologen, Biologen, Mediziner
und seit einiger Zeit auch hohe Beamte und Kleriker sich in einer geistigen Bewegung zusammengefunden haben, der seit 1969 der Name 'Die neue Gnosis' anhängt, eine Bezeichnung, die ihr
ursprünglich von ihren Kritikern im Spott verliehen, aber dann von den Beteiligten als recht zutreffend übernommen wurde. Die historische Gnosis, etwa im 1.Jahrhundert während der frühen
Geschichte des Christentums auftauchend und bald als Ketzerei verboten, hatte ihre Wurzeln im Denken der Babylonier, Inder und Ägypter. Ihr zentraler Gedanke ist, daß das Königreich Gottes
bereits hier auf dieser Erde in allen seinen Erscheinungen mit uns und in uns sei. Der Gläubige kann demnach in eigener Versenkung die Kenntnis der tiefsten göttlichen Geheimnisse unmittelbar
erlangen. Er muß weder auf einen vermittelnden Priester, noch auf ein Leben nach dem Tode oder gar auf das Kommen des Messias warten: Vorstellungen, wie sie in den orientalischen Religionen und
später auch im Islam akzeptiert waren, während das Christentum sie bei jedem Wiederauftauchen verdrängte. Diese Spaltung des intimen Zusammenhangs von Mensch und Gott mag bereits eine Wurzel
jener Zerrissenheit sein, die Bohm geschildert hat, ein Vorgang, ohne den die Unterwerfung der 'heidnischen Natur', die Geburt der Naturwissenschaften und die Entwicklung der Technik vielleicht
gar nicht möglich gewesen wären. Kann dieser Riß je heilen? Ja, so meint Ruyer als Interpret der 'neuen Gnosis', wenn man bereit ist anzunehmen, daß die Welt vom 'Geist' geschaffen und ganz von
ihm durchdrungen ist in allen ihren Erscheinungen. Die Materie wird demnach nicht mehr als Gegensatz zum Geist angesehen, sie ist nur sein stofflicher Ausdruck, seine Erscheinung in den Augen der
anderen. Aber diese körperliche Existenz erweist sich auf einer anderen, tieferen und der Wahrheit näheren Ebene als eine Art Illusion, die nur notwendig ist, damit wir die Welt und einander
wahrnehmen können. Diese Auffassung klingt gewiß unwahrscheinlich, aber sie entspricht weitgehend den neuesten Ergebnissen der Teilchenphysik. (...) Derartige Experimente haben uns gezeigt, daß
auf der subatomaren Ebene ständige Bewegung, unaufhörlicher Wandel herrscht. Die Teilchen werden nicht länger als 'Bausteine' gesehen, sondern als perimäre fließende Erscheinungen, die auftauchen
und wieder verschwinden. Die Materie, ja darüber hinaus das ganze Universum, erweist sich als ein eigentlich immaterieller Strom, ein gewaltiges, untrennbar ineinander verwobenes Netz von
Energien, das zwar für die Beobachter immer andere Wirbel und Muster hervorbringt, aber keine festen, ja nicht einmal mit Bestimmtheit auffindbare Bestandteile aufweist. 'In dieser Welt haben
klassische Auffassungen wie 'Elementarteilchen', 'materielle Substanz' und 'isoliertes Objekt' ihre Bedeutung verloren', meint der Physiker Fritjof Capra, der unter dem Titel 'THE TAO OF PHYSICS'
ein hochinteressantes Buch über die zunehmende Konvergenz westlicher Physik und östlicher Mystik geschrieben hat. (...) Richard Feynman, den Einstein als seinen begabtesten Schüler bezeichnete,
hat seinen Hörern am 'California Institute of Technology' verkündet: 'Wir müssen eine neue Vision der Welt finden. Was wir am meisten brauchen, ist Phantasie.' (...) Was liegt näher als Träume
und Ahnungen, in denen die Freudsche Psychologie nur Manifestationen des UNTERbewußtseins sehen wollte, als mögliche Mitteilungen eines noch nicht entdeckten, aber in seinen Wirkungen
gelegentlich schon spürbaren ÜBERbewußtseins zu sehen. Die 'Gnosis von Princeton' nimmt laut Ruyer die alte, bei allen Naturvölkern verbreitete Vorstellung wieder auf, daß 'das innere Genie des
Menschen, sein DAIMON - im Sinne Platos - sein Gott im Traum zu ihm spreche. Aber bei solchen Allgemeinheiten, die Gott wieder einmal als bequeme Verkörperung jeder Unbekannten in einer
ungelösten Gleichung, als Lückenbüßer für noch nicht vorhandene Erkenntnis einsetzt, will man nicht stehenbleiben. Die Traumforschung und darüber hinaus die seit Mitte der sechziger Jahre sich
kräftig entwickelnde Untersuchung verschiedener Bewußtseinszustände versucht, diese bisher den esoterischen und 'geheimen' Wissenschaften überlassenen Domänen der faßbaren und dokumentierbaren
Erkenntnis zu erschließen."
Robert Jungk: "Die neue Gnosis" (1977)
"Für die Einführung von Himmelsstützen in die Kosmologie scheinen also vor allem statische Gesichtspunkte zu sprechen. (Anm.ebenda: Die Annahme von
Himmelsstützen ist vermutlich aus der praktischen Erfahrung genommen; zu ihr gehört auch die Angst, der Himmel könnte auf die Erde herabstürzen und die Menschen erschlagen. Derartige
Einsturzmythen sind auch in anderen Gebieten Afrikas verbreitet gewesen.) Aber ebenso ist die älteste Kosmologie auf ein bestimmtes Geschehen bezogen und insofern an den Mythos gebunden.
Wesentlich ist hier die Vorstellung von dem Werden der Welt in einem Schöpfungsakt. In mythischer Hinsicht folgt aus der Selbstbegattung des Schöpfungsgottes Atum die Genealogie der Götter, in
mehr naturphilosophischer und prinzipieller Hinsicht liegt dem Schöpfungsgeschehen ein fortlaufender Trennungsprozeß zugrunde. Naturphilosophisch gesehen bedeutet Weltschöpfung Weltwerden:
Weltentwicklung vollzieht sich durch Bewegung. Ihre klassische Form hat die ägyptische Schöpfungslehre in Heliopolis erhalten. Naturmythen werden zu kosmischen Gottheiten personifiziert. Aus der
Neunheit der Götter von Heliopolis (Anm.ebenda: Die Neunheit als das Quadrat von drei stellt die vollendete Drei dar. Neben der Neun gehört auch die Vier zu den heiligen Zahlen Ägyptens.
Derartige Vorstellungen sind von den Pythagoreern im antiken Griechenland aufgegriffen und weiterentwickelt worden.) treten einzelne Götter am Anfang hervor: Luftgott Schu, Sohn des Atum, trennt
die Himmelsgöttin Nut vom Erdgott Geb, indem er sie emporhebt und stützt. Dem Mythos nach sind ursprünglich Himmel und Erde nicht voneinander getrennt. Der die Nut liebende Schu erfüllt die
Funktion des himmelsstützenden Gottes. Nut, nun zur Mutter der Gestirne geworden, beugt sich gleich einer Himmelsbrücke liebevoll über Geb, der ermattet, enttäuscht zurückbleibt. Dieser
lebendige, fast anthropomorphe Mythos kehrt im Osiris-Kult wieder."
Volker Bialas: "Vom Himmelsmythos zum Weltgesetz -
Eine Kulturgeschichte der Astronomie" (1998)