Der berühmte Antwortbrief Schillers an Goethe, der den feinen Unterschied zwischen Anschauung (Natur) und Abstraktion (Idee) als die beiden Pole der Weimarer Klassik lebensphilosophisch
erklärt ! Goethe anerkannte nur eine Quelle der Erkenntnis, die Erfahrungswelt, in der die objektive Ideenwelt mit eingeschlossen ist. Anders dachte Schiller. Ideenwelt und
Erfahrungswelt empfand er als zwei getrennte Reiche. Trotz dieser konträren Weltanschauungen gelang es Schiller und Goethe, die jahrelang gepflegten Vorurteile zu überwinden. In einem Brief vom 23. August 1794 charakterisierte Schiller Goethes Naturanschauung sehr genau:
(...) Lange schon habe ich, obgleich aus ziemlicher Ferne, dem Gang Ihres Geistes zugesehen, und den Weg, den Sie sich vorgezeichnet haben, mit immer erneuerter Bewunderung bemerkt. Sie suchen
das Nothwendige der Natur, aber Sie suchen es auf dem schweresten Wege, vor welchem jede schwächere Kraft sich wohl hüten wird. Sie nehmen die ganze Natur zusammen, um über das Einzelne Licht zu
bekommen; in der Allheit ihrer Erscheinungsarten suchen Sie den Erklärungsgrund für das Individuum auf. Von der einfachen Organisation steigen Sie, Schritt vor Schritt, zu der mehr verwickelten
hinauf, um endlich die verwickeltste von allen, den Menschen, genetisch aus den Materialien des ganzen Naturgebäudes zu erbauen. Dadurch, daß Sie ihn der Natur gleichsam nacherschaffen, suchen
Sie in seine verborgene Technik einzudringen. Eine große und wahrhaft heldenmäßige Idee, die zur Genüge zeigt, wie sehr Ihr Geist das reiche Ganze seiner Vorstellungen in einer schönen Einheit
zusammenhält. Sie können niemals gehofft haben, daß Ihr Leben zu einem solchen Ziele zureichen werde, aber einen solchen Weg auch nur einzuschlagen, ist mehr werth, als jeden andern zu endigen, -
und Sie haben gewählt, wie Achill in der Ilias zwischen Phthia und der Unsterblichkeit. Wären Sie als ein Grieche, ja nur als ein Italiener geboren worden, und hätte schon von der Wiege an eine
auserlesene Natur und eine idealisirende Kunst Sie umgeben, so wäre Ihr Weg unendlich verkürzt, vielleicht ganz überflüssig gemacht worden. Schon in die erste Anschauung der Dinge hätten Sie dann
die Form des Nothwendigen aufgenommen, und mit Ihren ersten Erfahrungen hätte sich der große Styl in Ihnen entwickelt. Nun, da Sie ein Deutscher geboren sind, da Ihr griechischer Geist in diese
nordische Schöpfung geworfen wurde, so blieb Ihnen keine andere Wahl, als entweder selbst zum nordischen Künstler zu werden, oder Ihrer Imagination das, was ihr die Wirklichkeit vorenthielt,
durch Nachhülfe der Denkkraft zu ersetzen, und so gleichsam von innen heraus und auf einem rationalen Wege ein Griechenland zu gebären. In derjenigen Lebensepoche, wo die Seele sich aus der
äußern Welt ihre innere bildet, von mangelhaften Gestalten umringt, hatten Sie schon eine wilde und nordische Natur in sich aufgenommen, als Ihr siegendes, seinem Material überlegenes Genie
diesen Mangel von innen entdeckte, und von außen her durch die Bekanntschaft mit der griechischen Natur davon vergewissert wurde. Jetzt mußten Sie die alte, Ihrer Einbildungskraft schon
aufgedrungene schlechtere Natur nach dem besseren Muster, das Ihr bildender Geist sich erschuf, corrigiren, und das kann nun freilich nicht anders als nach leitenden Begriffen vonstatten gehen.
Aber diese logische Richtung, welche der Geist bei der Reflexion zu nehmen genöthigt ist, verträgt sich nicht wohl mit der ästhetischen, durch welche allein er bildet. Sie hatten also eine Arbeit
mehr: denn so wie Sie von der Anschauung zur Abstraction übergingen, so mußten Sie nun rückwärts Begriffe wieder in Intuitionen umsetzen, und Gedanken in Gefühle verwandeln, weil nur durch diese
das Genie hervorbringen kann.
So ungefähr beurtheile ich den Gang Ihres Geistes, und ob ich Recht habe, werden Sie selbst am besten wissen. Was Sie aber schwerlich wissen können (weil das Genie sich immer selbst das größte
Geheimniß ist), ist die schöne Übereinstimmung Ihres philosophischen Instinctes mit den reinsten Resultaten der speculirenden Vernunft. Beim ersten Anblicke zwar scheint es, als könnte es keine
größeren Opposita geben, als den speculativen Geist, der von der Einheit, und den intuitiven, der von der Mannigfaltigkeit ausgeht. Sucht aber der erste mit keuschem und treuem Sinn die
Erfahrung, und sucht der letzte mit selbstthätiger freier Denkkraft das Gesetz, so kann es gar nicht fehlen, daß nicht beide einander auf halbem Wege begegnen werden. Zwar hat der intuitive Geist
nur mit Individuen und der speculative nur mit Gattungen zu thun. Ist aber der intuitive genialisch, und sucht er in dem Empirischen den Charakter der Nothwendigkeit auf, so wird er zwar immer
Individuen, aber mit dem Charakter der Gattung erzeugen; und ist der speculative Geist genialisch, und verliert er, indem er sich darüber erhebt, die Erfahrung nicht, so wird er zwar immer nur
Gattungen, aber mit der Möglichkeit des Lebens und mit gegründeter Beziehung auf wirkliche Objecte erzeugen.
Aber ich bemerke, daß ich anstatt eines Briefes eine Abhandlung zu schreiben im Begriff bin - verzeihen Sie es dem lebhaften Interesse, womit dieser Gegenstand mich erfüllt hat; und sollten Sie
Ihr Bild in diesem Spiegel nicht erkennen, so bitte ich sehr, fliehen Sie ihn darum nicht. (...)
Ihr gehorsamster Diener F. Schiller
(Jena, den 23. August 1794)
WEITERFÜHRENDE LITERATUR:
"Goethe, Schiller und die Anthroposophie - Das Geheimnis der
Ergänzung"
Ewald Koepke beschreibt, wie Goethe und Schiller in der durch ihre Freundschaft überwundenen und gesteigerten Gegensätzlichkeit den Keim zur Anthroposophie legen: Das Verhältnis zwischen Goethe
und Schiller war in den ersten Jahren ihrer Bekanntschaft keineswegs freundschaftlich, sondern von einem tiefen Abgrund bestimmt. Goethes tiefer Verbundenheit mit der Natur, die ihm ermöglichte,
in der Sinnesanschauung selbst das in den Erscheinungen sich offenbarende Göttliche zu erkennen, stand Schillers Bestreben gegenüber, sich über die Natur zu erheben und im reinen Vernunftdenken
Zugang zur göttlich-geistigen Welt zu gewinnen. Erst als trotz aller polaren Gegensätzlichkeit der Freundschaftsbund geschlossen wurde, kam es zu jenem Zusammenwirken, welches das Schaffen beider
beflügelte und steigerte, sodass im Grunde keiner ohne den andern leben konnte. Für eine Zeit lang schien es, als seien hier die Gegensätze tatsächlich in einer höheren Einheit zusammengefallen.
Ewald Koepke stellt das, was sich an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert zwischen den beiden so bedeutenden Persönlichkeiten abspielte, in einen großen weltgeschichtlichen Zusammenhang. Er
verfolgt einerseits die beiden Strömungen, deren Repräsentanten Goethe und Schiller sind, zurück in die frühe Geschichte der Menschheit; andererseits stellt er dar, wie die Vereinigung durch
Goethe und Schiller zwar angestrebt, aber letztlich doch nicht erreicht werden konnte und erst in der Anthroposophie ihre Erfüllung fand.
Ewald Koepke, geboren 1931 in Horneburg an der Unterelbe. Nach dem Abitur Studium der Malerei in Stade, Hamburg und Düsseldorf. Dann Schauspielausbildung und Engagements an verschiedenen deutschen Bühnen. Ab 1972 anthroposophisch orientierte Vortragstätigkeit, Leitung von Arbeitsgruppen, Seminaren und Studienreisen. Publikationen über Adolf Portmann, August Strindberg, Friedrich Schiller, Richard Wagner und andere.