Was hat ein Friedhof in Düsseldorf mit einem Museum in Goch zu tun? Die Musealisierung der Kunst wird manchmal auch kritisch als ihre ästhetische Beerdigung einer Bewegung bezeichnet, besonders bei Fluxus-Werken und Video-Dokumentationen von Performances, denn hier lebt die Kunst vom PROZESS DER TOTALEN GEGENWART (anstatt ihrer finalen Historisierung in einen willkürlichen Kanon aus subjektiven Traditionen), die sich ebenso wenig festhalten lässt wie DAS LEBEN SELBST. Diese Kritik kann durchaus bis zum kulturpessimistischen Boykott einer jeglichen Vermarktung reichen, wenn jedes konsumierbare Produkt angeblich automatisch zur popindustriellen Verharmlosung des radikalen Potenzials einer visionären Erkenntnis führt. Aber wie soll eine
geistige Energie transportiert & kommuniziert werden, wenn nicht mittels eines irgendwie sinnlich nachvollziehbaren Informationsträgers? Dadurch mutiert der besondere Botschafter nicht unbedingt zum "Verräter" oder zum "Überläufer" ins billige Supermarktregal sondern er nimmt einfach teil am kollektiven Austausch der konkurrierenden Ideen. Außerdem kann die künstlerische Gestaltung und Darstellung der ewigen Verwandlung der Materie auch die existenzielle Bereitschaft des Menschen erhöhen und sein normalneurotisch-urängstliches Herz durchlässig machen für TABUISIERTE THEMEN, um sich überhaupt an sie heran zu wagen, ohne sofort einen Schock zu erleiden. Hier beginnen sich Mystik, Philosophie, Kunst und Wissenschaft immer weiter einander anzunähern: Die Beschäftigung mit den sogenannten "letzten Fragen", wie z.B. wieso es das Universum gibt oder was nach dem Tod kommt, führt dazu, daß sowohl der Besuch eines Museums als auch der Spaziergang über einen Friedhof einer ähnlichen Gemütsverfassung entspringen und eine seelische Stimmung erzeugen, die den eigenen Umgang mit dem Tod als ständigen Begleiter bewußter macht und in mehr Urvertrauen und tieferer Freude am Jetzt mündet...
Tom de Toys, 30.1.2012 (Vision)
PFLAN-ZEN, PFLEGE & PFLICHTEN
IM ALLTAG DES FRIEDHOFSGÄRTNERS
Der Beruf eines Friedhofsgärtners umfasst nicht nur die Kenntnis von Steinplatten, Pflanzen, Richtlinien für Grabstätten und Friedhofsverordnungen
sondern ist darüber hinaus eine komplexe Tätigkeit mit einigen sichtbaren und unsichtbaren Ebenen. Besonders befriedigend ist die hautnahe Arbeit in und mit der Natur sowie DER RESPEKTVOLLE
UMGANG MIT DEM TOD als einem ebenso selbstverständlichen Bestandteil des Lebens wie alle Prozesse der Natur, die dem Rhythmus der Zeit als ewige Wandlerin der Materie unterworfen sind.
Vergänglichkeit & Gedächtnis gehen auf Friedhöfen eine harmonische Verbindung ein, hier findet Abschied im selben Atemzug wie Gedenken statt, hier ist der Schrei der Verzweiflung von
Noch-Lebenden ebenso wie die andächtige Ruhe der Schon-Toten zuhause, die Trauer um den Verlust und DER DANK FÜR DAS GEWESENE, das einmal in das Ver-Wesen mündet...
Der Gärtner gestaltet das Ambiente des Todes als einen Ort des Gebets und des Friedens, indem er den Hinterbliebenen mit der Schaffung und Pflege der letzten Ruhestätte dabei hilft, sich mit der Geschichtlichkeit und dem Zerfall des Lebens langfristig anzufreunden, soweit das der Mensch eben kann und will. Sogar dem Sterbenden selber kann der Friedhofsgärtner Trost vermitteln, indem er ihm zeigt, mit welchem Aufwand er nicht vergessen wird! Lieblingspflanzen, Blumen und Steine sowie das ornamentale Outfit des Grabes sind eine würdevolle Möglichkeit, dem Charakter des Toten gerecht zu werden, damit ein Ort geschaffen wird, an dem man sich in tiefer Liebe zum Vermissten innig und andächtig versenken kann...
Und während der betroffene Besucher des Friedhofs seinen Gedanken nachgehen und seinem Gedenken freien Lauf lassen kann, arbeitet "der unsichtbare Gärtner" im Hintergrund an der Erhaltung dieses letzten Ortes der Menschlichkeit: Pflanzen werden nachgezüchtet, Maschinen im Betriebshof gewartet, von der Witterung Zerstörtes ausgebessert, Dekorationen für kommende Todesfälle entworfen, das Gelände im Einklang mit Jahreszeiten und Wetterverhältnissen gepflanzt & gepflegt, Kalkulationen über verschiedene Beerdigungsvarianten durchgespielt, je nach Religion oder Religionslosigkeit - kein Tag auf dem Friedhof vergeht ohne die Hingabe an diesen Lauf der Natur, aus deren Erde wir alle gemacht sind und mit deren Erde wir wieder verschmelZEN...
Bruno Brachland Nr.38, 28.5.2011
HOHLKNOCHENWESEN
(HOLLOW BONE BEING)
An jedem tag
stirbt ein anderer
während wir unsere ach
so verspielten zungen
ganz sorglos ins licht halten
und die gesichter verschmelzen
als wären wir das verbotene leere
im spiegel des gottes hinter gott
aber auch ich bin nebenbei
irgendwann dran und auch du
mein leibhaftiger engel
noch schauen wir
in die tagtägliche sonne
verfolgen die wolken und
lieben uns so gut wir können
bis zu dem endgültigen ende
uns bleibt keine wahl
wir sind todgeweihte
als traumgeborene
von anfang an
würde ich dürfte ich
mit dir ins ewige abseits
verschwinden bevor
einer den anderen
nur noch vermissen kann
ich würde mit dir zusammen
das weite und offene suchen
zur gleichen zeit
an derselben stelle
den letzten gemeinsamen atem
ausstoßen und abheben und
fliegen ja wenn du mich küßt
kann ich vergessen daß
wir schon bald zu staub zerfallen
beim küssen sind wir
diese wirklich vorhandenen
und wir werden es
immer gewesen sein
"Als braver Viktorianer scheint Freud niemals an die Möglichkeit gedacht zu haben, daß in freien und vitalen Menschen animalische Lust und intellektuelle,
künstlerische, ja religiöse Erfahrungen durchaus harmonisch miteinander leben und sich ergänzen können, so daß der von ihm so scharf gesehene Konflikt zwar geschichtliche Realität besitzt,
keineswegs jedoch unlösbar und unüberwindbar ist. Reich wiederum scheint, wie alle Naturalisten im Fahrwasser Rousseaus, nicht die Gewalt, die Brutalität, das grausame Leiden und die Indifferenz
zu sehen, die das organische Leben von seinen frühesten Anfängen an verwundet und zerrüttet haben, wie es die großen 'Pessimisten' von Buddha bis Schopenhauer und Leopardi mit soviel Mut gezeigt
haben. Freud wie auch Reich verdrängten, jeder auf seine Weise, den Tod als eine spezifisch menschliche, durch Erinnerung, Anteilnahme und die Gewißheit des Kommenden intensivierte Angst aus
ihrem kritischen Horizont. (...) Es ist unglaublich, wie wenig Beachtung die Humanwissenschaften dieser Flut von Angst, Panik und Verzweiflung schenkten, welche die Psyche des menschlichen Affen
überschwemmte, seitdem er seine typische, tragische Eigenschaft entwickelte, sein tödliches Schicksal vorauszufühlen, in gesundem oder krankem Zustand den Tod zu vergegenwärtigen, ihn zu
erwarten, seine Anwesenheit in jedem Augenblick zu argwöhnen, an der Agonie und dem Tod der geliebten Personen schmerzvoll Anteil zu nehmen und diese tägliche Qual in der Erinnerung, in Trauer
und angstvoller Voraussicht zu wiederholen. (...) Im Gegensatz zu Schopenhauer akzeptierte Nietzsche nicht die buddhistische Konsequenz, daß, wenn das Leben Leid ist, die einzig mögliche Antwort
in der Verneinung des Willens zum Leben liege. Hier ist anzumerken, daß Nietzsche schon als junger Mensch vielerlei Leiden erfuhr (schreckliche Migräneanfälle, periodische Blindheit, soziale
Isolation, Frustrationen und Erniedrigungen in der Liebe), die ihn dreimal zum Selbstmordversuch trieben. Doch war seine Antwort die eines ungezähmten menschlichen Affen, der, vom existentiellen
Schock gepeinigt, heroisch und verliebt das Leben über alles körperliche und seelische Leid hinweg wiederbestätigt. Eine Wiederbestätigung, die sich aus einem schöpferischen Denken
speist."
Luigi De Marchi: DER URSCHOCK (1984)