"Das Merkwürdigste an einem Loch ist der Rand. Er gehört noch zum Etwas, sieht aber beständig in das Nichts, eine Grenzwache der Materie. Das Nichts hat keine Grenzwache: während den Molekülen am Rande eines Lochs schwindlig wird, weil sie in das Loch sehen, wird den Molekülen des Lochs ... festlig? Dafür gibt es kein Wort. Denn unsre Sprache ist von den Etwas-Leuten gemacht; die Loch-Leute sprechen ihre eigne. Das Ding an sich muß noch gesucht werden; das Loch ist schon an sich. Wer mit einem Bein im Loch stäke und mit dem andern bei uns: der allein wäre wahrhaft weise. Doch soll dies noch keinem gelungen sein. Lochen Sie nicht; das Loch ist die einzige Vorahnung des Paradieses, die es hienieden gibt." Kurt Tucholsky, in: "Zur soziologischen Psychologie der Löcher" (erstveröffentlicht in der Weltbühne, 17.3.1931)
"Ich selbst gehöre weder dazu noch repräsentiere ich sie irgendwie. Nicht, weil ich sie nicht respektiere oder mit ihnen im Widerstreit liege, sondern deshalb,
weil ich in derlei Angelegenheiten von meinem Temperament her gegen Vereinsmeierei bin."
Alan Watts, in: Anmerkung zu BEAT-ZEN, SPIEßER-ZEN UND ZEN (1958)
Tom de Toys, 3.-6.1.2005 als Drehbuch-Entwurf für eine Kultursatire
(angedachter Filmtitel: "DAS LÖCHERNE ZEITALTER")
DAS POSTHUME EIGENLEBEN
(DIE INSZENIERUNG UND INSTRUMENTALISIERUNG
DES NACHRUHMS ZU LEBZEITEN)
Endlich konnten wir beginnen, denn ich war jetzt tot!
[FINALLY WE COULD START NOW AS I WAS DEAD!]
...dachten jedenfalls die meisten gäste. immerhin hatten wir diese party jahrelang vorbereitet und nur die engsten freunde eingeweiht. natürlich: auch meine
lieblingsverwandten sowie einige gleichgesinnte kollegen wußten bescheid. es hatte zahlreiche diskussionen im vorfeld gegeben, wem man überhaupt trauen könne und es war gar nicht leicht, für
jeden eine maßgeschneiderte regie-anweisung zu schreiben. jeden einzelnen verband eine völlig eigene und ziemlich merkwürdige geschichte mit mir, oft gekrönt von unheimlichen zufällen, wie sie
ansonsten nur in esoterischen lehrbüchern zu finden sind. aber das führt hier vorläufig zu weit, ich sollte zunächst einmal auf die hintergründe eingehen,
der rest erklärt sich dann sowieso von selbst.
also meine mutter hatte es in gewisser weise am schwersten. sie war keine gute schauspielerin und ich mußte sie bei den unzähligen proben immer wieder aufs neue
davon überzeugen, daß alles nur gespielt würde und ich selbstverständlich weiter leben wollte. denn darum ging es uns ja genau! aber sie brach immer erst dann in tränen aus, wenn sie sich für
einen kurzen moment vorstellte, ich sei wirklich tot, um gleich darauf zitternd den nächstbesten statisten am handgelenk zu packen und mit den erleichterten worten "gott sei dank, mein junge
lebt noch!" aufzuatmen und den ganzen schwindel auffliegen zu lassen. nun ja, sie ging also wochenlang vorher zum schauspielunterricht, was schon allein für ihr alter eine lobenswerte
leistung darstellte. mein vater lernte unterdessen die offizielle pressemitteilung auswendig, mit den wundersamsten details über meine eigenen vorahnungen des vorzeitigen ablebens, damit die
germanisten und kunsthistoriker problemlos an einen sogenannten "frühvollendeten" glauben konnten. und dann war da noch einer meiner ehemals besten freunde, der eine nahezu vollständige sammlung
von originalausgaben aller weit über hundert selbstverlegten gedichtbände und
bildkataloge besaß, die das feuilleton zu meinen lebzeiten hundertprozentig ignoriert hatte. dieser weggefährte koordinierte zusammen mit einem selbsternannten museumsdirektor die begleitende
retrospektive, die mit reichlich vitrinen und frühwerken einem echten mausoleum
ähnelte.
wer vielleicht noch auf die schnelle erwähnenswert sein könnte, sind der pensionierte bürgermeister meines geburtsortes sowie der amtierende bundeskanzler. beide
schlürften ihren cocktail so formvollendet im smalltalk versunken, daß mir diese hypnotische höflichkeit eiskalt über den rücken lief. aber immerhin übten sie
ihre rolle als zuverlässige marionetten aus, grinsten breit in die kameras, versicherten den anwesenden medien, daß es hier tatsächlich um einen bedeutenden verlust für die deutsche kultur-landschaft ging, und sonnten sich auf ihren plätzen in der ersten reihe, als wir mein angebliches abschiedsvideo auf großleinwand im
garten zeigten. unsere techniker hatten ganze arbeit geleistet: während dem nichtsahnenden publikum mithilfe billiger computereffekte vorgetäuscht wurde, daß es sich um eine alte amateuraufnahme
handle, wurde ich in wahrheit von unserer zigtausend kilometer entfernten insel via satellit live zugeschaltet und verlas neben testament und grußworten in sämtlichen weltsprachen auch den
vermeintlich ersten abschnitt aus meiner unveröffentlichten antibiographie, von der aber in wirklichkeit nur exakt dieser anfang existierte:
"visionen eröffnen einen völlig anderen blick auf das leben. du schaust plötzlich durch alles hindurch und wunderst dich, warum kein anderer merkt, daß
wir tag für tag mogelpackungen fressen."
[niedergeschrieben am 27.6.2004]
der applaus und die geheuchelten tränensturzbäche waren derart überwältigend, daß ich sogar selber für einen moment lang fast glaubte, tot zu sein. welch ein
inspirierendes erlebnis, all diese gesichter wieder zu sehen, all diese längst in der vergangenheit verschollenen menschen: mehrere exfreundinnen, die plötzlich allesamt behaupteten, meine größte liebe gewesen zu sein, nur weil ich ganz gut darin war, jeden augenblick mit einem echten
menschen in totaler hingabe zu würdigen, weil ich DAS ECHTE LEBEN nicht als selbstverständlichkeit sondern als geschenk empfand. dann diese ekligen
galeristen, schmarotzer der kreativität und falsche gönner, die meinen stil jetzt auf einmal als vorwegnahme einer kommenden bewegung feiern wollten. und
profilneurotische journalisten, denen früher der mut fehlte, gegen den strom zu schwimmen und die mich nun ganz locker in eine lange reihe aus traditionen und deren ach so ehrwürdigen überwindern
stellten – und und und...
endlich ewiger urlaub statt ätzender alltagskampf. was allerdings keiner ahnen konnte, noch nicht einmal eingeweihte, war meine spezielle und allgemeine
revolutionstheorie des begriffes von urlaub: nicht das faulenzen stand hier im mittelpunkt sondern die nichtentfremdete visionäre arbeit, wie wir sie in den
metropolen nur noch aus kitschigen kinofilmen mit helden und abenteurern kennen. wir hatten die insel nämlich aus ganz bestimmten gründen gekauft. nicht eigentlich
um mich zu verstecken (das war nur vorübergehendes mittel zum zweck) sondern um ein geheimes paranormales projekt zu verwirklichen: den ersten transrealistischen LOCHTEMPEL. es war mir gelungen, einen noch unbekannten, medial begabten architekten von meinem traum einer anti-sekte für freigeister zur rettung
der menschheit vor ihrer eigenen selbstzerstörung zu überzeugen. mit ihm und seinem bautrupp verschwand ich bereits seit jahren regelmäßig auf der insel, um den günstigsten standort zu
vermessen und den nötigen weißen marmor für das kernstück zu berechnen: die innerste große runde lichtdurchflutete halle mit gläserner kuppel und dem riesigen durchschreitbaren steinloch in der
mitte.
jetzt, da mein tod glimpflich über die bühne gegangen war und meine werke geld einspielten, konnten wir endlich mit dem bau beginnen. es dauerte allerdings noch
einmal mehrere jahrzehnte bis zur fertigstellung, denn dieser erste in liebevoller kleinarbeit von hand errichtete antitempel erhielt die ausmaße eines
fußballstadions. und jedesmal wenn das geld wieder knapp wurde, schrieb ich ein neues gedicht, das mein angeblicher nachlaßverwalter als sensationelle entdeckung aus dem erfundenen archiv
zauberte und geschickt vermarktete. als wir dann schließlich an die öffentlichkeit treten konnten, um die einweihungsfeier kundzutun, und verraten wollten, daß ich damals nur abgetaucht aber
keineswegs gestorben war, mußten wir eine erschreckende erfahrung machen, die gruseliger war als alles, was ich zu offizieller lebzeit in betracht gezogen hatte: aufgrund meines fortgeschrittenen
alters, der glatze und dem vollbart, erkannte mich erstens niemand wieder außer meinen inzwischen verstorbenen eltern. stattdessen hielt man mich für einen schizophrenen mönch, der sich mit
meinen spirituellen lochgedichten überidentifizierte. und zweitens versuchten nun jene ursprünglichen mitstreiter, die durch ihre anteile der verbreitung
meiner werke in nichtsnützigem luxus schwelgten, mich umzubringen anstatt auf die insel auszuwandern, wo wir für jeden einen verantwortlichen posten als tempelpfleger vorgesehen hatten. es blieb
uns genau genommen nur eine einzige perverse notlösung: ich mußte weiterhin tot bleiben und den tempel an die zuständige landesregierung abtreten, so daß er als staatliche einrichtung betrieben
werden konnte. doch diese korrupte bande asozialer marionetten erkannte in dessen enormer räumlichen leere und friedlichen stille keinen meditativen
mehrwertfaktor zur erweiterung des kollektiven bewußtseins sondern pries ihn als touristisches ausflugsziel an, um mit eintrittsgeldern und drumherum angesiedelter unterhaltungsindustrie die
sogenannte "staatskasse" zu füllen, also ihre selbstverordneten gehälter auf geheimen privatkonten aufzustocken.
es war daher nur eine frage der zeit, bis einige tapfere junge leute den tempel stürmten und flugblätter mit antitouristischen
manifesten verteilten. da diese unterste untergrundbewegung dank rein telepathischer vernetzung unbemerkt über jahrhunderte gewachsen war, gab es keinerlei staatlichen
widerstand. an den obersten positionen des militärs saßen nämlich inzwischen heimliche lochisten und sogar der präsident hatte schon einmal das marmorne tempelloch unerkannt incognito
durchschritten und dabei dessen vermögen gespürt, den menschen in die TOTALE GEGENWART als seine offene mitte heimzuholen.
und so wurde mit etwas verspätung zu guter letzt doch noch das ziel erreicht, die ganze menschheit nach und nach an die kosmische unendlichkeit zu gewöhnen, um in familiärem frieden miteinander zu leben und weder kunst noch personenkulte als ersatzdroge zu benötigen. die löcher in den seitdem
weltweit errichteten tempeln entfalten nun endlich ihre ganze undogmatische wirkung. am beliebtesten aber sind sie wohl bei den kindern, die ständig hindurch rennen, fangen und verstecken
spielen, lachen, singen, tanzen, herumtollen und spaßwetten abschließen, wer als erster groß genug sein werde, um den oberen rand des loches mit den haaren zu berühren. während die erwachsenen
andächtig in der halle umherschreiten oder erschöpft auf den matratzen liegen, um das wieder zu finden, was der moderne elektrosmog in
ihnen verbrannt und verseucht hatte: die informationslose ruhe in ihren herzen, damit die seele frei sprechen lernt und sich dem anderen lochmenschen in jeder sekunde wohlwollend offenbart.
"Strenggenommen gibt es keine Zen-Meister, weil Zen nichts zu lehren hat. Seit Urzeiten haben diejenigen, die Zen erfahren haben, Möchtegern-Schüler von sich
gewiesen, nicht nur, um deren Aufrichtigkeit auf die Probe zu stellen, sondern um eine offene Warnung auszusprechen, daß die Erfahrung des Erwachens (satori)
nicht durch Suchen gefunden werden kann und in keinem Fall etwas ist, das man sich aneignen oder kultivieren kann."
Alan Watts, in: Anmerkung zu BEAT-ZEN, SPIEßER-ZEN UND ZEN (1958)