Köln: LÄKTORITIS PLAGIJATIS

(aus der Soapserie "Helden der Lyrikszene")

Diptychon: FLUCHT NACH VORNE (c) De Toys, 3.3.09 @ Peilschiff, Paul-Lincke-Ufer, Berlin
Diptychon: FLUCHT NACH VORNE (c) De Toys, 3.3.09 @ Peilschiff, Paul-Lincke-Ufer, Berlin

 

Tom de Toys alias Ärwin Ängstirn Nr.3, 18.3.2002

(während einer Jazz-Jam-Session in der Neuen Mitte, inspiriert durch "Schattenernte" von Alex Nym in der Zeitschrift PANoptikum Nr.1)

 

LÄKTORITIS PLAGIJATIS
( NAME-DROPPING & FAME-FLOPPING PART 2 )


Seltsam... in der ersten Lesung, die ich jemals besuchte, versteckte sich ein gewisser Rainer Schedlinski hinter dem Turm seiner Suhrkamp-Veröffentlichungen und nuschelte Lyrik durch den Nikotin. Das war 1992 in Köln, und ich dachte bereits nach wenigen Minuten daran zu fliehen, aber mehrere Opfer hatten es mir ermöglicht, dieser seriösen Literatur-Veranstaltung beizuwohnen. Einer Lesung ohne Lektor. Zunächst gilt es festzustellen, daß ich mich dafür sehr früh aus dem Bett quälen mußte, denn es handelte sich um einen Frühschoppen. Aber was tut man nicht alles, um einen LEBENDEN Dichter zu sehen! Hinzu kam allerdings, daß dieses außergewöhnliche Ereignis an einem Sonntag stattfand, und ich mich damals meinem Körper immerhin erst 24 Jahre ausgeliefert hatte, weshalb das Problem des Frühaufstehens als auch Sonntäglichen mit den meist sagenhaft langweiligen Partys der Samstagnacht zusammenhing. Warum? Weil das Bedürfnis, sich ausgerechnet an einem Samstagabend unter Leute zu mischen, dann doch meine stille Verpflichtung meist besiegte, noch ein Gedicht niederzuschreiben, denn genau das tat ich ja sowieso zu Genüge an sämtlichen anderen Tagen mehrmals. Also hatte ich bis in den Morgengrauen getanzt, dadurch überflüssige Gespräche vermieden, in denen ohnehin nur gefragt wurde, seit wann man SCHON DA sei und wen man denn kenne – und saß dann keine paar Stunden später im grellsten Sonnenschein in der ersten Reihe andächtig vor diesem keine Generation älteren Kollegen. Mit Muskelkater, Kopfschmerzen und übelstem kalten Schweiß. Nicht nur auf der Stirn sondern tief im Hirn. Als ob eine Armee aus gefrorenen Schutzengeln versuchte, mir sämtliche Nervenbahnen mit Eispickeln freizulegen, um ihre betäubten Wurzeln miteinander zu verknoten und solange Kurzschlüsse vorzutäuschen, bis ich ihr chorartiges Geflüster in deutsche Sprache zu übersetzen bereit schien. Man wollte mich zwingen zu dichten! Zwischen anderen Zuhörern auf viel zu harten Stühlen eingequetscht, während jedes Schluckgeräusch eine Schallmauer im Zigarettennebel durchbrach. Ich konnte unmöglich den Kugelschreiber zücken, das Klicken der Mine hätte schon zu einem Blutsturz geführt. Und das Rascheln von irgendeinem Papier wäre überhaupt nur durch ein geschicktes Täuschungsmanöver gerechtfertigt gewesen, indem ich nämlich die Nase betont vorsichtig hochziehen würde, natürlich mit toternstem Blick geradeaus auf die sprechende Bühne gerichtet, dann scheinbar verzweifelt nach Taschentüchern greifen müßte, um nebenbei irgendeinen Zettel mit an das Tageslicht zu befördern und wie beiläufig auf meinem Schoß abzulegen. Aber ich unterließ all das und lauschte bis zum bitteren Ende den unsichtbaren Worten, stürzte dann gekonnt langsam mit gekünstelt entspanntem Gesichtsausdruck auf die Straße, flüchtete gespielt zielsicher in eine kleine Gasse und stand schließlich, weil es Sonntag war, eine halbe Stunde gedankenlos wartend an der Straßenbahn-Endhaltestelle. Und noch nicht einmal Mittag. Und dann auch noch Köln. Allein in der glühenden Sonne. Hinter den allerdunkelsten Brillengläsern verschanzt. Typische Totenstille wie im Western. Ich konnte den surrenden Flügelschlag jeder einzelnen Mücke hören. Gleich um die Ecke tobte der Trödelmarkt. Oder war es ein Freibad? Völlig getrennte Welten. Unter der Sonne vereint. Was die zeitlose Geduld eines Vogels bestätigte, der aus den Baumwipfeln regungslos zu mir herüber trällerte. Fast glaubte ich schon, daß er mich auslachte, aber der Schreck in den Gliedern erreichte nicht rechtzeitig das Rechenzentrum. Von den schicken verstaubten Schuhen kletterte der Gestank meiner Füße in der Hose hoch. Ein Juckreiz an den Waden, ich klebte am Asphalt und bemerkte die Tragweite des Hochsommers. Meine Engel tauten allmählich auf und schlugen mit immer noch steifen Flügeln lächerlich um sich, bis mein vermeintlicher Widerstand soweit gebrochen war, daß sie einen besonders leuchtenden an die Front schickten, um meine tiefschlafende Sehnsucht mit folgender Botschaft zu verseuchen: "ES GIBT KEIN ERWACHEN, DIE SONNE SCHEINT IMMER, NUR DU DREHST DICH IM KREIS!" Also gut, dachte ich: das reicht jetzt! Keine fünf Minuten später warf ich ihren weit aufgerissenen Himmelsmäulern ein Gedicht zum Fraß hin, beendete die Schwarzfahrt zufällig an einem meiner beiden Stammcafés, der Jazzkneipe Storch, und holte bei Milchkaffee und Mohnkuchen erstmal Luft. Und rückte die Sonnenbrille zurecht. Diese galt selbst in der Kleinstadt als Erkennungszeichen für wichtige Künstler.  Wenn jemand JETZT reinkäme, etwa der selbsternannte Entdecker neuer Talente Jochen Arlt  (dem ich ein Gedicht für seine "junge" Anthologie* verweigerte, weil er den Titel ändern wollte), Alexander Bach (inzwischen sein eigener abgehobener Klüngelheld) oder Carsten Sebastian Henn (der sich gerne entdecken ließ) oder vielleicht stan lafleur (mittlerweile zum ersten Brinkmann-Preisträger avanciert, der dem Namensgeber gerecht wird, und trotzdem – oder gerade deshalb – nicht auf der underground-imitierenden Lit.Cologne vertreten ist), dann könnte ich wenigstens stolz behaupten, mit meiner Arbeit ganz gut voran zu kommen. Jaja, ein Gedicht pro Tag, SOGAR SONNTAGS, das war ja wohl selbstverständlich – das Werk wächst und wächst und wächst... entweder töten die Engel mich, oder ich rotte sie gnadenlos aus. Jeder ins Herz geritzte Strich stand für einen geflügelten Wächter im Luftgefängnis, den ich mithilfe eines Gedichtes so neugierig gemacht hatte, daß er die Kammer aufschloß, um es zu lesen. Und zack, war er über meinen Kugelschreiber gestolpert, jaja, auch Engel brechen sich das Nasenbein und glauben nicht an Gott, wenn man sie für ein paar Sekunden ablenkt, und genau in so einem Moment steht der Fluchtweg offen, durch die endlosen Gänge des Bewußtseinslabyrinthes, dessen echter Ausgang weder auf der anderen Seite aller Sackgassen liegt noch jenseits der Ränder sondern in der Erkenntnis, daß Du nicht Dein Bewußtsein bist sondern der Schöpfer aller Labyrinthe. Aber das kann ein paar Jahre dauern, und bis dahin schreibst Du über tausend Befreiungsrezepte und baust bessere Belüftungsanlagen in die immer vornehmeren Gefängniszellen ein. Und landest irgendwann plötzlich beim Hofrundgang wieder auf einer Lesung. Diesmal mit Lektor. Und wieder ein Suhrkamp-Autor. Sechshundert Kilometer neben Köln. Der Lektor leitet den Abend ein und betont jedes Wort so, daß ich die einzelnen Buchstaben mitzählen kann. Ob sein Herz auch so konsequent schlägt? Dann nickt Volker Braun zwischendurch. Wir schreiben das Jahr 2002. Und ich sitze ohne Sonnenbrille in der Hauptstadt. Es ist Montag. Montag abend. Jamsession in der Jazzkneipe Schlot. Gleich gegenüber vom Brechthaus. Die Gäste klatschen nach jedem Solo, mitten im Stück. Der Free-Jazz ist eine höfliche Angelegenheit unter Kennern. Hier kommt sicher kein Dichterkollege vorbei. Die sitzen alle am Prenzlberg. Und suchen das Neue an ihrer Literatur. Volker Braun redet hingegen endlich selber in metaphorischem Singsangton von den alten Zeiten, nachdem uns sein Lektor so lange mit verlegerischen Schwierigkeiten einlullte, daß sogar die wenigen gespenstisch umherirrenden Engel mitten im Flügelschlag umkippen. Ohnmacht durch poetischen Mangel. Gefrorene Engel zerspringen sofort wie Porzellan, die halbwegs aufgetauten titschen wie Gummi über den Marmorboden und verfolgen mich bis zum Holzparkett im Hinterhof-Jazzkeller, und während mir der Unterschied zwischen Lyrik, Prosa, Tagebuch und Psychose immer weiter verschwimmt, eigentlich bloß durch das Benutzen von Füllwörtern wie Und oder Oder und Punkt oder Komma überhaupt noch vorhanden scheint, stehe ich schon wieder im Praterclub Bastard auf einer PoetrySlam-Bühne und kann mich nun endlich erinnern, sehr gut erinnern, warum ich die letzten Jahre keine anständige Lesung besucht habe, keine einzige, wo einer vorne sitzt und mir irgendwas Hochliterarisches unterjubeln will, während ich völlig gelangweilt auf harten Stühlen umherrutsche und eher an den Knackarsch meiner Freundin denke als mir irgendwas Überflüssiges von irgendnem Medienliebling erzählen zu lassen. Ich lasse mir nichts erzählen, mich kotzen diese trockenen Lesereihen an, in denen kein anderer als ein durchsublimierter etablierter Schriftsteller aus seinem Leben plaudert.. Ich hasse Geschichten, Anekdoten, Metaphern und Schoten, ich hoffe noch immer auf eine Bewußtseinsrevolution. Und ich sage Euch hier und heute: Mit mir kann man noch nach dem fünften Hefeweizen philosophieren, ich warte noch immer bei jedem Auftritt darauf, daß keiner mit faulen Eiern schmeißt sondern sich selber den Arsch aufreißt. Ich hasse das Klatschen, ich will keinen Beifall von konditionierten Oberaffen, solange in irgendeinem Afghanistan unsere Erde bebt – wer nicht selber auf den Brettern steht, die angeblich die Welt bedeuten, hat sowieso einen Knall! Erst wenn alle, restlos alle, das ganze bekloppte Publikum hier oben auf dieser Bühne steht, und mit mir im Chor spricht "DAS UNIVERSUM IST GROß, SEHR GROß!", glaube ich wieder an den Menschen, die Macht seiner Seele, und solange pumpe ich sämtliche Wahrheit durch meine Kehle. Und verzichte gerne auf alle Nobelpreise. Das Leben ist nur eine kurze, allzu kurze Wahrscheinlichkeitsreise.

 

* 1996 "Junger Westen" (Überblick über Gegenwartsliteratur in NRW)

 

 

"GEFÄLLIGKEIT verkauft sich besser: das gefesselte Talent, das gegen sich selbst gerichtet ist; die Kunst, mit harmonischen, berechenbaren Reden zu beruhigen und im Tone guter Kumpanei zu beweisen, daß die Welt und der Mensch mittelmäßig und durchschaubar, ohne Überraschungen, ohne Drohungen und uninteressant seien. Mehr noch: da der Bürger zu den natürlichen Mächten nur durch Mittelspersonen eine Beziehung hat, da die materielle Wirklichkeit ihm in der Form von gewerblichen Erzeugnissen erscheint, da er unabsehbar weit von einer bereits vermenschlichten Welt umgeben ist, die ihm sein eigenes Bild wiederspiegelt, da er sich darauf beschränkt, an der Oberfläche der Dinge die Bedeutungen abzulesen, die andere ihnen beigelegt haben, da seine Aufgabe im wesentlichen darauf beschränkt ist, abstrakte Symbole, Wörter, Chiffren, Schemata und Diagramme abzutasten, ... hat er sich davon überzeugt, daß das Universum auf ein System von Ideen zurückzuführen sei; (...) So begreift er den menschlichen Fortschritt als eine große Assimilations-Bewegung: die Ideen gleichen sich einander an, die Geister auch. (...) Die Schlußfolgerungen sind im voraus festgelegt; im voraus hat man die Tiefe bemessen, die der Forschung erlaubt ist, die psychologischen Ressorts sind fein säuberlich getrennt, selbst der Stil ist geregelt. Das Publikum fürchtet keinerlei Überraschung, es kann mit geschlossenen Augen kaufen. Aber die Literatur ist damit tot."
Jean-Paul Sartre, in: WAS IST LITERATUR? (1950)

 

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