Leser, die das folgende Gedicht mochten, interessierten
sich auch für das G&GN-Interview im Magazin "perspektive"
"Es gibt ja eigentlich keinen vernünftigen Grund,
ein Gedicht zu schreiben, es ist ein neurotisches Produkt."
Christoph Klimke, in: MEIN HUMOR RETTET MICH! (14.6.2014)
"... / ich spreche zu euch / und vergeß nicht die Seitenblicke / welche die Poesie von der Akademie unterscheiden / der Gedanke ist belebt / (...) /
totschlagende Pleonasmen haben mich schon aus so vielen Gesellschaften vertrieben / wo man die Zeit wie im Konversationsstück verbringt / ..."
Vítezslav Nezval, in: ANTILYRIK (AUF TRAPEZEN, 1978)
"Lyrik ist eine psychologische Notwendigkeit, um aller Entfremdung vom Menschlichen, aller mechanistischen Außensteuerung
entgegenzuarbeiten und sich selbst wiederzufinden. (...) Man schreibt Lyrik, weil man verletzlich ist. Verletzlich vielleicht
durch den erdrückenden Betrieb dieser Welt, durch das Funktionieren, durch die Bürokratie, durch die Medien, was immer uns manchmal zu viel wird."
Therese Chromik,
in:
VERKLAMMERUNG VON WORT UND LEBEN
(13.6.2014)
"wo sind die natürlichen quellen? / die absoluten metaphern? / aus denen wir flüssiges gold schöpfen / um die ameisen zu
übergießen / die aus deinem mund laufen / (...) / keiner stellt die richtigen fragen / alle glauben alle antworten zu haben / ohne zu wissen das sie mit einem / unsichtbaren spiegel durch die
welt rennen / (...) / ich akzeptiere keine gedichte die keine / echten menschen mit echten gefühlen / und klaren gefühlen erreichen ich bin / ein solches
gedicht"
Jonas Gawinski, in: Eingesandt
(Lyrikzeitungsticker Nr.84, 18.3.2014)
"Die Vorurteile und Pauschalen, die man benutzt, um überhaupt und hinreichend schnell agieren und Autoren abqualifizieren zu
können (um sie so letztendlich handsome zu kriegen), sind aber nicht das einzige Problem. Der Betrieb mag keine freien Radikale. Sie stören den Ablauf, verletzen Tabus, sind unbequem, stellen
Strukturen in Frage. Der Betrieb selbst grenzt aus und drückt außer Reichweite. Selbst der kleine, überschaubare Lyrikbetrieb ist verkliquisiert und übervölkert mit Künstlern >>die vor lauter Wimpergeklimper und Selbstvernarrtheit nur noch Stipendienanträge verfassen, netzwerken und von keiner Bühne, auf der sie
einmal Fuß gefasst haben, wieder herunter zu kriegen sind.<< (Gerhard Falkner)."
FM, in: ZEIT WIRDS IMMER (16.1.2014)
"literatur formt innere haltung,öffnet horizonte und herzen,schafft bewußtsein.nicht mehr und nicht weniger sollte man von kunst erwarten.das verändert die welt nicht direkt aber nachhaltig."
Alex Nitsche, in: "MACKEN WIE GEDICHTESCHREIBEN"
(Nahbellpreis-Interview, 10.12.2013)
"Materielle Sorgen und Abhängigkeiten beeinträchtigen die geistige Freiheit. (...) Die Politik braucht den Schriftsteller, weil er der Gesellschaft Bilder vermittelt, die auch von politischer Relevanz sind. (...) Der Politiker, der die Bedeutung der Literatur real einschätzt, kann von vielem, was sie anbietet, profitieren. (...) Je vielfältiger die Literatur ist, um so größer ist die Chance, daß die Politik zum Nutzen der gesamten Gesellschaft von der Literatur profitiert." Willy Brandt, in:
BRAUCHT DIE POLITIK DEN SCHRIFTSTELLER? (1974)
"GIBT ES ETWAS, DAS GESPENSTISCHER WÄRE ALS DIESER DEUTSCHE KULTURBETRIEB MIT DEM FORTWÄHRENDEN RUF NACH STIL ETC.? WO BLEIBT
IHR STIL, WO BLEIBT IHR STIL? HABEN SIE DENN KEINE GUTEN MANIEREN?"
Rolf Dieter Brinkmann, in: DIE PILOTEN (1968)
"Hier kann man auf zwei Buchseiten nebeneinander bis zu fünf Fassungen eines Gedichts lesen und so nachvollziehen, wie sich aus
einem Keim manchmal nur weniger Verse, der häufig Spuren einer persönlichen Erfahrung durchscheinen lässt, die endgültige Gedichtfassung herauskristallisiert."
Wolfgang Emmerich, in: AUSLÖSCHUNG AUF RATEN
(2010)
"Wenn aber das Publikum sich mit dem konkreten Universum identifizierte, dann hätte der Schriftsteller wahrlich über die
menschliche Totalität zu schreiben. (...) Plötzlich wäre die literarische Antinomie der lyrischen Subjektivität und der objektiven Zeugenschaft überwunden. (...) wenn die Literatur sich eines Tages ihres Wesens erfreuen soll, dann wird der Schriftsteller ohne Klasse, ohne Kollegen, ohne Salons, ohne
großartige Ehrungen, ohne Würdelosigkeit in die Welt und unter die Menschen geworfen werden, (...) er wird wissen, daß ihm nicht die Anbetung des Geistigen zukommt, sondern die
Vergeistigung. (...) So würde in einer nicht erstarrten Gesellschaft ohne Klassen und ohne Diktatur die Literatur ganz ihrer selbst bewußt werden: (...) Selbstverständlich handelt
es sich hier um eine Utopie: es ist möglich, eine solche Gesellschaft sich vorzustellen, aber wir verfügen praktisch über kein Mittel, sie zu verwirklichen."
Jean-Paul Sartre, in: WAS IST LITERATUR? (1950)
Tom de Toys, 27.2.2014, allen Celangweilern gewidmet
EHRLICHE L(ORB)EEREN
(HYMNE AUF DIE EWIGE SCHNÖSELLITERATUR)
Das allzu aufgeregte
aufzählen
von absichtlich einmaligen einzelheiten.
Das demagogische
drumherumreden
in selbsterfundenen urbildern.
Das prätenziöse beschreiben
von allzu persönlichen wahrheiten
als großangelegte geheimnisse.
Das symbolisieren der wirklichkeit
anhand aller möglichen mogelmetaphern.
Das unbemerkte aufspringen auf alle
parallel
zu den ozeanen verlaufenden gleise.
Der abwesende zug als illusion einer bewegung.
Der wiederholte sprung in die vertuschte leere.
Das heimliche ignorieren der feuchtigkeit.
Die übersensible sehnsucht
nach
weißem sand und wellenrauschen.
Das unglaubliche berühmtwerden durch
anbiederung beim einfachen bürger.
Das noch unglaublichere ausruhen
beim komplizierten bildungsbürger.
Die sensation des angeblichen
im gewand der neuartigkeit.
Die neue artigkeit.
Wir sind literatur.
Wir werden nobelpreis.
Wir waren.
"Aber wo fängt wirklich ein Gedicht an? Was ist Stil? Und was ist schlechter Stil? (...) Als wenn Schreiben ein Handwerk wäre, das man lernen könnte. Kann man,
sagen die Lehrer. Kann man vielleicht doch nicht, sagt Bertram Reinecke. (...) Denn mittlerweile hat sich der Formenkanon ja so aufgelöst, dass man oft nur noch an der Kürze des Textes merkt,
dass es ein Gedicht sein könnte. (...) Irgendwie sieht es nach Gedicht aus. Aber es 'funktioniert' nicht, es löst beim Zuhörer oder Leser nichts aus. Keine
Begeisterung, keine Betroffenheit, kein Staunen, nichts. (...) Da ist dann natürlich die Frage, wie offen einer ist für den Widerhall. Denn verstanden werden wollen ja die meisten
Autoren. Und zwar sehr genau. Dazu eignet sich das Gedicht geradezu: Das Sagbare prägnant und wirksam zu sagen. So genau, dass nichts fehlt und nichts zu viel ist. (...) Aber irgendwie scheint
der Wille, genau diese Arbeit zu leisten, so ungebrochen wie je. Und das ist sogar tröstlich in einer Zeit des regierenden Blabla."
Ralf Julke, in: Gruppendynamik: Ein kleines Büchlein über Lyrikwerkstätten, Kritik, Enttäuschung und die Aufmerksamkeit fürs Gedicht (Leipziger Internet Zeitung, 26.10.2013)
"Keiner liest kritische bücher, weil das den GEDANKENLOSEN GENUSS der spärlichen freizeit beeinträchtigt. Gelesen wird schnösel- und schundliteratur vom
allerfeinsten, geredet wird über die namen der angeblich angesagten autoren. Die zeitungen recherchieren nicht eigenständig nach kritischer masse, sondern beschweren sich selbstgefällig über die
allgemeine tendenz zur anbiedernden leichten kost."
De Toys, in: VERTRIEB UND VERTRIEBENE (sOMatoform 66,
11.3.2014)
KOMMENTAR (TOM DE TOYS): "was das kommentieren hier betrifft, habe ich mehrfach wiederholt, daß ich es im sinne der sache empfinde, wenn dichter das kommentarfeld für LYRIK verwenden. das geschieht leider viel zu selten, ist natürlich nur MEINE meinung. jedenfalls war ich der einzige, der den ukrainischen kollegen ein antikriegsgedicht als solidaritätsgruß postete. DAS finde NICHT NUR ICH erschreckend dürftig, aber ich weiß von einigen kritischen, qualitativ hochwertigen LESERN dieser zeitung, daß sie schon vor langer zeit die eigene einmischung hier AUFGEGEBEN haben, weil man sich nur die hörner am psychopillepalle und manchmal sogar an LÜGEN abstößt." ANTWORT (DR. MICHAEL GRATZ): "...bitte laß es einfach und such dir für deine selbstdarstellungen ein forum, das intellektuell besser zu dir paßt..."
De Toys & Dr. Gratz, in: LYRIK HAT ES SCHWER?
(Lyrikzeitung, 17.3.2014)
"Unter allen Himmelsstrichen, in allen Klimazonen, unter jedem Regime, unter Tyrannen und in Republiken haben sich Menschen abgekapselt oder sind ins Exil
gegangen, wenn sie um ihr Leben bangen mußten, nur um dieses seltsame Schreibbedürfnis zu stillen. (...) Die Personalakten eines Beamten enthalten die Beurteilungen, die seinen Wert
bestimmen. Nahezu für jedermann gibt es Kriterien, unbestrittene Diplome. (...) Der Schriftsteller jedoch? Der Künstler? Niemand, keine Institution hat ihm diesen Titel verliehen. Er hat ihn sich
zugelegt, ohne zu wissen, ob er das Recht hatte, sich damit zu schmücken. Die Aufgabe, die er sich gesetzt hat, ist ihm nicht gestellt worden. Sie entspringt keiner unmittelbaren Notwendigkeit,
und es ist sehr gut möglich, daß sie sich im nachhinein als schädlich für die Gesellschaft erweist. Wer soll diesem Menschen Mut einflößen und darüber entscheiden, ob er
erfolgreich war oder sein Leben vertan hat? (...) Das Publikum zollt ihm Beifall? Es ist zunächst immer nur ein Teil der Öffentlichkeit, der applaudiert. Millionen Menschen bleiben gleichgültig,
während andere sich hartnäckig feindlich verhalten. (...) Letztlich steht am Ende der Laufbahn, die in der stillen Stube eines jungen Mannes begonnen hat, nichts als derselbe junge Mann als Greis
mit einem Packen vollgeschriebener Seiten, die gedruckt sind oder immer noch auf einen Verleger warten. Und selbst wenn das Abenteuer durch ein Wunder mit einem Staatsbegräbnis endet,
bleibt noch die Möglichkeit, daß eine neue Generation diesen Ruhm mit einem Lächeln oder einem Schulterzucken zunichte macht."
Georges Simenon, in: DER ROMAN VOM MENSCHEN (1977)
"Die Vollkommenheit im Nutzlosen ist, wohlverstanden, die Schönheit. Vom >L'art pour l'art< über den Realismus und Klassizismus zum Symbolismus
sind sich alle Schulen darin einig, daß die Kunst die erhabenste Form des reinen Konsums ist. Der Schriftsteller lehrt nichts, er spiegelt keine Ideologie wider, er wehrt sich vor allem
dagegen, ein Moralist zu sein: (...) Vertrauen schenkt man nur Unternehmungen, deren Zweck der fortgesetzt zurückweichende Horizont unendlich vieler Mittel ist. Wenn das Kunstwerk in den
utilitaristischen Kreislauf eintritt und wenn man es ernst nehmen soll, dann muß es vom Himmel der bedingungslosen Zwecke heruntersteigen und sich seinerseits als nützlich erweisen, d.h. es muß
sich als ein Mittel zur Anordnung von Mitteln darstellen. (...) Ein solcher Optimismus steht in äußerstem Widerspruch zu der Auffassung, die der Schriftsteller sich von seiner Kunst bildet: der
Künstler bedarf einer unassimilierbaren Materie, weil Schönheit sich nicht in Ideen auflöst; (...) wenn er die Wüste oder den jungfräulichen Wald dem Geiste einverleiben will, dann geschieht das
nicht, indem er sie in Vorstellungen von Wüste und von Wald verwandelt, sondern indem er das Sein eben als Sein aufleuchten läßt - mit seiner Dichte, mit seinem inneren Widerspruch durch die
unerklärte Ursprünglichkeit der Existenz. (...) GEFÄLLIGKEIT verkauft sich besser: das gefesselte Talent, das gegen sich selbst gerichtet ist; die Kunst, mit harmonischen, berechenbaren
Reden zu beruhigen und im Tone guter Kumpanei zu beweisen, daß die Welt und der Mensch mittelmäßig und durchschaubar, ohne Überraschungen, ohne Drohungen und uninteressant seien. Mehr
noch: da der Bürger zu den natürlichen Mächten nur durch Mittelspersonen eine Beziehung hat, da die materielle Wirklichkeit ihm in der Form von gewerblichen Erzeugnissen erscheint, da er
unabsehbar weit von einer bereits vermenschlichten Welt umgeben ist, die ihm sein eigenes Bild wiederspiegelt, da er sich darauf beschränkt, an der Oberfläche der Dinge die Bedeutungen abzulesen,
die andere ihnen beigelegt haben, da seine Aufgabe im wesentlichen darauf beschränkt ist, abstrakte Symbole, Wörter, Chiffren, Schemata und Diagramme abzutasten, ... hat er sich davon überzeugt,
daß das Universum auf ein System von Ideen zurückzuführen sei; (...) So begreift er den menschlichen Fortschritt als eine große Assimilations-Bewegung: die Ideen gleichen sich einander an, die
Geister auch. (...) Idealismus, Psychologismus, Determinismus, Utilitarismus, Seriosität - dergleichen hat der bürgerliche Schriftsteller seinem Publikum in erster Linie zu bieten. Man verlangt
von ihm nicht mehr, daß er die Fremdartigkeit und die Undurchdringlichkeit der Welt wiederherstelle, sondern daß er die Welt in elementare, subjektive Eindrücke auflöse, die sie möglichst leicht
verdaulich machen - man verlangt von ihm auch nicht, daß er in der tiefsten Tiefe seiner Freiheit die intimsten Regungen des Herzens aufdecke, sondern daß er seine >Erfahrung< der seiner
Leser gegenüberstelle. (...) Die Schlußfolgerungen sind im voraus festgelegt; im voraus hat man die Tiefe bemessen, die der Forschung erlaubt ist, die psychologischen Ressorts sind fein
säuberlich getrennt, selbst der Stil ist geregelt. Das Publikum fürchtet keinerlei Überraschung, es kann mit geschlossenen Augen kaufen. Aber die Literatur ist damit tot. (...) Das
Bürgertum liest den Schriftsteller, es allein ernährt ihn und entscheidet über seinen Ruhm. (...) Und da der Künstler ganz in seinem Milieu steckt und dieses nicht von draußen betrachten kann, da
seine Proteste wirkungslose Seelenzustände sind, bemerkt er es gar nicht, daß das Bürgertum eine unterdrückende Klasse ist; (...) So bewegen sich der bürgerliche Schriftsteller und der verfemte
Schriftsteller auf derselben Ebene; der einzige Unterschied besteht darin, daß ersterer weiße Psychologie und der zweite schwarze Psychologie betreibt. (...) Trotzdem kann ich mich noch in der
Beschreibung wiedererkennen, die der reinste Lyriker von seinen Absonderlichkeiten liefert; und wenn der experimentelle Roman die Wissenschaft nachahmt, ist er dann nicht brauchbar wie sie, kann
nicht auch er seine sozialen NUTZANWENDUNGEN finden? Die Extremisten wünschen, aus Angst, zu etwas nütze zu sein, daß ihre Werke den Leser nicht einmal mehr über sich selbst aufklären; sie
weigern sich, ihre Erfahrung mitzuteilen.(...) Im übrigen weiß das Bürgertum ganz genau, daß der Schriftsteller insgeheim seine Partei ergriffen hat: er braucht das Bürgertum, um seine
oppositionelle und ressentimentvolle Ästhetik zu rechtfertigen; von ihm bekommt er die Güter, die er verzehrt; er wünscht die soziale Ordnung aufrechtzuerhalten, um sich dauernd darin als
Fremdling zu fühlen: kurzum, er ist nur ein Revoluzzer, kein Revolutionär. Mit Revolten wird das Bürgertum fertig. In gewissem Sinne ist es sogar ihr Komplize: es ist immer noch besser,
die Kräfte der Verneinung in einem eitlen Ästhetizismus, in einer wirkungslosen Revolte zusammenzuhalten; wären sie frei, dann könnten sie sich in den Dienst der unterdrückten Klassen
stellen. (...) für die bürgerlichen Leser ist ein begnadetes Werk harmlos und eine Zerstreuung; ... sie finden es nicht schlecht, daß es nutzlose Bücher gibt, die den Geist von
ernsthaften Beschäftigungen ablenken und ihm die Erholung verschaffen, deren er zu seiner Auffrischung bedarf. So findet das bürgerliche Publikum im Kunstwerk, selbst wenn es dessen Nutzlosigkeit
erkennt, noch ein Mittel, es nutzbar zu machen. (...) Ideen sind oft nur Luftblasen an der Oberfläche des Geistes."
Jean-Paul Sartre, in: WAS IST LITERATUR? (1950)
"Die klassische bürgerliche Kunst hat ihre Idealgestalten so weit von dem alltäglichen Geschehen entfernt, daß die in diesem Alltag leidenden und hoffenden
Menschen sich nur durch den Sprung in eine total andere Welt wiederfinden können. (...) Der Idealismus hat immerhin daran festgehalten, daß der Materialismus der bürgerlichen Praxis nicht das
letzte Wort ist und daß die Menschheit darüber hinauszuführen sei. (...) Die Idee der Liebe fordert aber die individuelle Überwindung der monadischen Isolierung. Sie will die erfüllende Hingabe
der Individualität in der unbedingten Solidarität von Person zu Person. (...) Aber die wirkliche Befriedigung der Individuen läßt sich nicht in eine idealistische Dynamik einspannen,
welche die Erfüllung immer wieder hinausschiebt oder überhaupt nur in das Streben nach dem nie schon Erreichten verlegt. Nur GEGEN die idealistische Kultur kann sie sich durchsetzen; nur GEGEN
diese Kultur wird sie als allgemeine Forderung laut. Sie tritt auf als die Forderung nach einer wirklichen Veränderung der materiellen Daseinsverhältnisse, nach einem neuen Leben, nach
einer neuen Gestalt der Arbeit und des Genusses. So bleibt sie wirksam in den revolutionären Gruppen, die seit dem ausgehenden Mittelalter die sich ausbreitende neue Ungerechtigkeit
bekämpfen."
Herbert Marcuse, in:
ÜBER DEN AFFIRMATIVEN CHARAKTER DER KULTUR" (1934-38)