Siehe auch Chronik "TACHELES REDEN!" über das Kunsthaus
"Berlin wird immer voller, der Abstand
zwischen den Bewohnern immer größer"
Hansjürgen Bulkowski, in: Lyrikzeitung (59. Poetopie, 14.4.2013)
"auf dem stillen Waldwanderweg schreit
eine Stimme ihre Verlassenheit ins Mobiltelefon"
Hansjürgen Bulkowski, in: Lyrikzeitung (51. Poetopie, 14.7.2013)
"Diese Leere des Hirns, das ekelhafte Ressentiment, das er spürte und das ihn ungerecht machte gegen alle Leute mit anständigen Anzügen, zufriedenem Antlitz und
ruhigem Schritt."
Walter Rheiner (1895 Köln - 1925 Berlin), in: Kokain (Juli 1918)
3 meiner allerwichtigsten Langgedichte aus den 90ern des 20.Jahrhunderts entstanden unter dem Pseudonym Tom Toys (OHNE "de"), daher gehören sie eigentlich in eine andere Rubrik meiner Jimdo-Werksortierung. Dort befindet sich bereits die "INFLATION" aus dem Jahre 1993. Direkt hier drunter folgt nun der 10-teilige Zyklus "LEGENDE (HOMMAGE AN DIE HAUPTSTADT)" von 1998 und das dritte im Bunde (links in der Linkliste) ist die Kurzform von "LANGEWEILE" (Köln 1994): "EXTASE STATT ELITE" (Kieler Demo 1997), dessen "wütender" Stil damals unter dem Einfluss der SocialBeat-Bewegung stand...
Tom (de) Toys, 19.-21.5.1998
LEGENDE
( HOMMAGE AN DIE HAUPTSTADT )
I
wer A sagt muß auch Berlin betreten der baustelle verblödet
am anfang ist irgendein untergang mit der sonne
prahlen die wörter im lärm der sprachlosen
erfindung von zukunft hat abgedankt
als rauschendes fest der veruntreuten
seele nicht großstadt nicht dorf und
erstrecht kein New York Barcelona und
Belgrad Bayern und Belfast sind überall
irgendein Brecht irgendein Heine
stirbt jede sekunde
die engel heißen nicht Rilke und Rumpelstilzchen
wohnt in der ewigkeit eines toten punktes
des kunstbetriebes
wo alle fluchtversuche zu spielfilmen führen
und führen uns schon zurück
bis die kinderlein schimpfen
wir hätten die große vergangenheit zugebaut
II
haut aufs herz
wir lesen die wahrheit
nur ungerne
von sterbenden lippen
noch einsamer
weltenbürger
aus liebessucht
entarteter
blick zwischen
gerade und gleich
kann niemand warten
wenn sonne und mond
dasselbe schlupfloch
ins diesseits
verschmelzen
III
in vollendeter müdigkeit
durch die schlaflose hitze
der ampelanlagen
vergoldeter herzschläge
den mut zur verzückung
beim atmen von durchsichtigen
falten enträtseln das
eigentlich eigentliche
am ganzen berührung
tut not sobald ängste
die lust überhöhen
IV
Berlin du bist nie mein Paris gewesen
dein winter ist kalt aber nicht ewig
dein frühling brennt sämtliche bilder nieder
bis hoffnungen sanft zu freundschaft verwesen
den hirnkadaver pflanzen wir in die mitte vom park
und tanzen mit gegenlicht auf unserem sarg
während hupen sirenen und kirchenglocken
täglich nichts ungewöhnliches
offenbaren will ich
meine zärtlichkeit aufbewahren
und schenke dir alle geduld
die brüchiger stahlbeton trägt
ohne kreiselverkehr bliebe massengelächter
wir proben den ernstfall noch für uns alleine
kein ballspiel gestattet
der liebe freien lauf
ich vermisse dich
in jedem menschen
V
wen das leben verzaubert kennt keine schranken
die schöpfung erschöpft sich in jedem moment
mit vögelgezwitscher aus allen ecken
der supermarkt ist garnicht weit
wer meint Berlin sei etwas ganz besonderes
sollte mit überraschungen rechnen
nicht mit geld
VI
von fremden umgeben die gleiches tun
mit dir glücklich
von einer zur nächsten gegenwart huschen
die kräne knirschen bis die kuppel glänzt
wir freuen uns auf den besuch von berühmten
langweilern
wer wird dann wen verschonen
VII
an deiner seite dem arbeiterstrom des neuen
tages zwischen asphaltlabyrinthen
touristenbussen und frischen schrippen
zwei wohnungen durch den gemeinsamen namen
entschatten als einsiedler vertrautes
lebensnetz kreuzen und alles
ändern was freiheiten widerspricht
den lachenden handküssen
im sofa auf sand versinken
Berlin versenken Berlin du
strand ohne ozean
VIII
kanalsysteme und schienenterror
beim milchkaffee x-beliebiger straßencafés
vergessen das analphabeth
reicht bis zum kleinen Z
IX
ein wunderbares
verhältnis hat begonnen
egal wohin
X
außerirdische
stimmungsgeräusche verdeutlichen
die heimholung schiffbrüchiger
monaden im spuk
entspannen
(...)
irgendein Brecht
irgendein Heine
stirbt jede sekunde
die engel heißen
nicht Rilke und
Rumpelstilzchen
wohnt in der ewigkeit
eines toten punktes
des kunstbetriebes
(...)