Dieses Gedicht des G&GN-Mitarbeiters Bruno Brachland wurde erstmals unter dem Hauptpseudonym Tom de Toys in der Anthologie "Fünfzigtausend Anschläge - Schwarzbuch der Lyrik 2016" (Hrg. von der Berliner Epidemie
der Künste) veröffentlicht. Eine Hörversion wurde vom Autor exklusiv für seine SOUNDCLOUD eingesprochen...
Gewidmet meinem verehrten 93-jährigen
Dichterfreund Karl-Johannes Vogt
Bruno Brachland, Nr.54, 3.11.2012
BEWUßTSCIENCEVERFASSUNGSSCHUTZKLEIDUNG
schrei mich an
wenn ich dir ausweiche
vom wetter erzähle mich wegdrehe
oder in schweigen hülle
als hätte ich dich nicht verstanden
komm schrei mich an
rüttel mich wach
schüttel mich
lass nicht locker
nur weil ich dir weismachen wollte
die fragen wären zu hoch für mich
oder zu sonderbar oder zu schwierig
weil ich mich gerne hinter dem alter verstecke
los schrei mich an
rüttel mich wach
schüttel mich
denn ich bin nicht senil
und ich jammer auch nicht
über das wetter und all meine wehwehchen
ich will von dir all diese fragen hören
nach deren antworten ich selbst
in der vergangenheit suchte
als meine sinne mir keinen streich spielten
mein körper nicht müde im sessel versackte
und mein bewußtsein hellwach in die ferne schweifte
wo gott und die liebe als schöne begriffe wohnen
die niemand mehr nachvollzieht aber
im alltag benutzt wie die normalen wörter für
kleidung nahrung und beziehungsprobleme
kritiklos und kommentarlos
wie apfel hose und angst
deren existenz davon abhängt daß wir
ein ding dazu beißen tragen und fühlen können
auch gott und die liebe brauchen handfeste beweise
ansonsten ersticke ich an den buchstaben
deren hohler klang meine seele vergiftet
komm schrei mich an
weil ich weder senil noch dement bin
rüttel mich wach
rezitier dieses gedicht laut und deutlich
obwohl ich überfordert scheine
schüttel mich panisch
schmeiß alle sachen zu boden
starr mir entsetzt in die augen und
lass nicht locker wenn ich behaupte
der text sei zwar nett aber die zeit nun um
schrei mich an rüttel mich wach
und erklär mir zitternd vor schreck
daß ich die reimlosen zeilen hier
absolut eigenhändig niederschrieb
um mich selbst in der zukunft zu nerven
nicht anzulügen nicht aufzugeben
den nahenden tod weder zu leugnen
noch auf die leichte schulter zu nehmen
los schrei mich an
sag mir die wahrheit
lies mir die großen gedanken vor
die mich mein leben lang weise begleiteten
gib mir mein ganzes gedächtnis
in einer einzigen stunde zurück
die gesamte erinnerung an mein eigenes werk
komm schrei mich an
rüttel mich wach
schüttel mich
bis ich es endlich kapiere
denn sonst hätte ich gegen mich selbst verloren
die dichtung als aufputschmittel hätte versagt
und das projekt poesie wäre kläglich
gescheitert