"Der letzte Grund alles Seins bist du selbst. Natürlich nicht das alltägliche Selbst, dessen Form dieser Urgrund annimmt oder 'vorgibt' zu sein, sondern das
innerste Selbst, das sich der Betrachtung entzieht, weil es zugleich immer der Betrachter selbst ist. Das also ist das Tabu aller Tabus: Du selbst bist ES! In unserer Kultur ist dies aber der
Punkt, wo man den Geisteskranken vom Normalen trennt. Dieser Gedanke ist die schwärzeste aller Blasphemien, die verwegenste aller Wahnvorstellungen. Wir glauben, dies sei die letztmögliche Form
des Größenwahns - eine Inflation des Ich bis hin zum vollständig Absurden. Denn obwohl wir mit einer Hand das Ich kultivieren, drücken wir es mit der anderen Hand zu Boden."
Alan Watts, in: DIE ILLUSION DES ICH (1966)
Bruno Brachland, Nr.55, 20.11.2012
MEHR REALITÄT
aufgehende sonne
hinter dem feldweg
inmitten der großstadt
absolut real
eine fast leere tram
für ein paar gutgelaunte leute
mitten im frühen berufsverkehr
absolut real
baustellenlärm und orange signalwesten
maschinengeräusche und teergeruch
auf den noch unschuldigen straßen
absolut überreal
frischer kaffee der duft des seins
der geschmack von verrückten ideen
neubeginn nahtloser taumel
aus der zu kurzen nacht
durch einen kristallklaren herbsttag
der schöner nicht sein könnte
absolut megareal
das gefühl wirklich zu leben
ohne die weltformel zu kennen
geschweige denn das universum
von außen beobachten zu dürfen
dieses gefühl daß mein körper
die antwort auf alle fragen
von selbst produziert
sowas von absolut wahnsinnsreal
lichtdurchfluteter kögraben mit models
geschminkte gesichter
auch sehr real
ich genieße das geheimnislose
rätsel realität
in jedem atemzug
"In der Dichtung sind die phantastischsten Aussagen über das Unwirkliche, das jenseits unseres Wissens Liegende möglich. Alles ist vergänglich. Wir, jede und
jeder von uns, sind keine substanzielle Wesenheit, sondern eine Art Flamme. Eine Flamme ist ein Strom heißen Gases, wie ein Wirbel in einem Fluss, immer sich bewegend, immer sich verändernd, und
doch scheint es immer die gleiche zu sein. Jeder von uns ist ein Fließen, und wenn man diesem Fließen widersteht, wird man verrückt. Man ist dann wie jemand, der mit der Hand krampfhaft
Wasser festhalten will - je stärker er klammert, desto rascher schlüpft es ihm durch die Finger. So kommt im Leben alles darauf an, sich an nichts zu hängen, sondern alles
loszulassen."
Alan Watts, entnommen aus der Nachschrift seines letzten Seminars "SPIELEN UND ÜBERLEBEN" (1973), veröffentlicht in: LEBEN IST JETZT (THE WAY OF LIBERATION),
Hrsg. von Mark Watts (1983)