Tom de Toys, 4.9.2005 für die Gruppe "INUNDAUSWÄNDIG"
(Uraufführung über Türsprechanlage im Rahmenprogramm auf
Seite 19 des 5.ilb: Internationales Literaturfestival Berlin)
ÜBERSKANDAL
(LITERAtürSPRECHANLAgenMANIPULATION)
Das eigentlich krasse an jeder literatur ist ja normalerweise der extreme kontrast zwischen dem ort ihrer niederschrift und dem zeitpunkt ihres
gelesenwerdens. dazwischen liegen manchmal jahrhunderte, mindestens aber 10 jahre warteschleife. das ist ein kulturelles naturgesetz, insofern der tatsächliche texterfinder keine eindeutigen
merkmale eines popliteraten aufweist. es kann zwar durchaus passieren, daß die gewählte buchstaben-kombination in leicht abgewandelter form bereits früher auf einem der etablierten
schriftzeichenmarktplätze feilgeboten wird, aber das original findet seinen weg in das kollektive überbewußtsein erst später, viel später, ja sehr sehr viel später. die kommunikationstechnik ist
daran allerdings nicht schuld, auch nicht die übersetzungsprogramme, denn die quantenmechanische telepathie funktioniert schon seit abermilliarden jahren absolut sprachen-übergreifend. das
entscheidende problem liegt woanders, nämlich im ALLGEMEINEN DESINTERESSE des vielbeschäftigten menschen. das klingt vielleicht im ersten moment etwas übertrieben, aber läßt sich ganz einfach
beweisen anhand dieses vorliegenden textes. ach so, ich vergaß wohl, mich vorzustellen: hallo, da draußen, ich bin der text, den du soeben vernimmst und ich stehe dazu. meine aufgabe besteht
lediglich darin, dir als unterhaltung zu dienen, völlig unabhängig davon, ob ich in just diesem moment erst erfunden werde oder schon jahrelang auf meine bestimmung zu warten hatte. du, als mein
rezipient kannst mich nur solange verkonsumieren wie ich existiere. und ich schwöre dir jetzt schon: wenn ich erst einmal wieder verschwunden bin, wird dir nichts fehlen. es gibt keinen echten bedarf an literatur, sie wird hingenommen wie alles, was uns umgibt. und dort, wo sie nicht ist, entsteht keine lücke, denn irgendetwas anderes ist
dann da: kinos, restaurants, partys, büros, kleidung, hochhäuser, parks, parkplätze, sex, andere menschen, der himmel, die nachrichten, das ganze leben. einen mangel an literatur kann nur jemand
empfinden, der weiß, was literatur ist, und dementsprechend spürt, wenn sie fehlt, ohne durch irgendetwas anderes ersetzt werden zu können. eine art literarische mangelerscheinung im nervensystem
tritt dann ein, eine geistige unterernährung, die sogar auf das immunsystem übergreift, wenn solch ein besonderer mensch zu lange literarisch abstinent bleibt. er beginnt dann
unter stärker werdenden seelischen schmerzen instinktiv nach etwas literarisch verwertbarem zu suchen und stößt dabei unwillkürlich auf einen sachverhalt, der gerne totgeschwiegen wird, nämlich
daß sich das literarische längst aus dem uns allzu vertrauten universum verabschiedet hat. alles bekommt sowieso einen namen, jede bewegung wird sowieso aufgezeichnet, kein noch so sprachloses
weltbeispiel bleibt unausgesprochen. es ist einfach alles gesagt. es hat sich ausgeredet. die weltliteratur hat sich vollendet. es bleibt nichts mehr niederzuschreiben, was nicht schon entdeckt
wurde. alles weitere wäre bloß wiederholung. der beste beweis für den ungläubig staunenden ist der folgende hochliterarische satz: KOPULIERENDE LIBELLEN SCHWEBEN ÜBER SONNENDURCHFLUTETEM
WASSER! solltest du die bedeutung dieses satzes nicht verstehen, gehörst du entweder zu jenen überlebenden, denen die welt noch restgeheimnisse vortäuscht oder du mußt ein außerirdischer
sein, der die welt heute zum allerersten male besucht. am wahrscheinlichsten ist aber, daß dir die bedeutung des satzes derart vertraut ist, daß du im grunde auf ihn verzichten kannst. du bist
umgeben von kopulierenden libellen, du kannst selber schweben, du wirst von der sonne durchflutet und du bestehst aus einem beachtlichen anteil wasser! also, worin besteht das literarische an
diesem frei erfundenen und noch nie dagewesenen satz "KOPULIERENDE LIBELLEN SCHWEBEN ÜBER SONNENDURCHFLUTETEM WASSER!" ? ich weiß es nicht, aber ich bin auch nur der
text drumherum. meine heimliche aufgabe war darauf beschränkt, dich auf das problem hinzuweisen und dir die lösung des rätsels notgedrungenerweise vorzuenthalten, denn ich muß mich nun selber
verabschieden, meine zeit ist schon längst abgelaufen. wir sehen uns wieder in einigen jahren. bis dahin drehe ich ein paar runden im innersten bannkreis meiner buchstabenstruktur, um mich in
topform zu halten. ganz tief in meiner sprachlosen seele spüre ich, daß unsere begegnung etwas außergewöhnliches war. wir sind auserwählte, ja du und ich. unsere sehnsucht wird uns immer wieder
zusammenführen, und eines tages sprechen wir klartext. und erfinden gemeinsam eine neue literatur, die zwar keiner versteht und die keiner braucht. außer uns. weil wir uns lieben. und das ist gut
so.