Antiprosa: "DER TITEL MEINES TEXTES"

 

Tom de Toys, 16.3.2015

DER TITEL MEINES TEXTES


Der Titel meines Textes ist identisch mit seinem Anfang, weshalb ich ihn nicht extra erwähnen brauche. Er lautet ganz einfach: DER TITEL MEINES TEXTES. Weshalb ich ihn allerdings doch vorsichtshalber erwähne, ist lediglich um keine falschen Erwartungen zu wecken, was den Inhalt des Textes betrifft. Es geht in diesem Text um den Titel des Textes, um nichts anderes als den Titel. Es ist nämlich normalerweise sehr schwer, einen geeigneten Titel für einen Text zu finden, der noch gar nicht geschrieben wurde. Im Falle meines Textes verhält es sich allerdings anders: ich habe das große Glück, daß der Titel hier ausnahmsweise schon auf der Hand liegt und nicht zusätzlich erfunden werden muß! Das ist ein ungeheuer großer Vorteil gegenüber anderen Texten, die manchmal ganz ohne Titel veröffentlicht werden und einfach beginnen, mitten im Text, ohne geringste Vorwarnung, ohne Erklärung, sondern sich selber quasi aus sich heraus erklären müssen. Der tiefere Grund nun, warum ich den Text mit seinem eigenen Titel beginnen lasse, liegt an einem Geheimnis von Literatur. Literatur ist ja allgemein dafür bekannt, daß sie Texte produziert, und zwar am laufenden Meter. Wenn man sich ständig der Literatur widmen würde, bestünde die außerordentliche Gefahr, in ihren Texten zu ertrinken. Sie ist die Mutter aller Texte, die Urmutter, die große gebärende und verschlingende. Literatur. Unsere Göttin Literatur, der wir mit jedem Text huldigen. Und natürlich auch mit jedem Titel. Es grenzt an Beleidigung, wenn man sich nicht einmal die Mühe macht, einen passenden Titel für seinen Text zu finden. Die Götter beleidigt man nicht ungestraft. Und erstrecht nicht die Göttin Literatur, diese Herrscherin über die Sprache. Man hat einen Titel zu finden, ansonsten droht einem die Sprachlosigkeit und damit die große Verweigerung aller Texte für alle Zeiten. Aus wäre der Traum vom gefeierten Literaten, zurück bliebe ein sprachloser Poet ohne Beweismaterial. Niemand könnte dann sicher sein, ob dieser Poet überhaupt imstande ist, Literatur zu produzieren. Er könnte behaupten, er wäre ein großer Poet, der keine Worte findet. Aber das wäre dann auch schon sein einziger Text: ICH FINDE KEINE WORTE, FÜR DAS, WAS ICH SAGEN MÖCHTE. Hätte er mit diesem schockierenden, geradezu peinlichen Satz Literatur produziert? Hätte er die Göttin geboren? Und welchen Titel sollte er diesem Satz geben? Am besten seinen eigenen Anfang: ICH FINDE KEINE WORTE. Damit ist ihm der Trick gelungen, er hat einen fertigen Text mitsamt Titel und damit das Recht, ihn zu publizieren und sich endlich als Poet feiern zu lassen. Vorbei diese deprimierenden Zustände von fehlender Inspiration. Diese erdrückende Sprachlosigkeit, diese Abwesenheit von Literatur. Die Literatur ist mit ihm auferstanden, die Göttin hat wieder gesiegt und erstrahlt in ihrem alten Glanz. Mit einem Text. Einem Titel. Und einem Thema. Ein Thema? Welches Thema? Die Frage brennt unter den Fingernägeln. Der Titel meines nächsten Textes wäre damit erfunden. Der Punkt geht diesmal an die Göttin. Aber ich weiß es, ich kann die Literatur irgendwann einmal besiegen. Ich werde den ultimativen Text ohne Worte, ohne Titel und ohne Thema schreiben. Ich werde ein Literat ohne Literatur sein. Total literaturfrei! Die Herrschaft der Götter wird ein für alle Male überwunden und die Welt endlich eine einzige große literaturfreie Zone...

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