"Rhythmus, Resonanz und Harmonie sind die Gesetze des Himmels. Und die Klänge, in denen sich die Musik ausdrückt, haben einen besonders bedeutsamen Stellenwert in unserem irdischen Leben, die Eigenschaft der Allgegenwart, des Hier-und-Jetzt. Zwar verdanken wir dem Sehvermögen die meisten unserer spezifischen Informationen, aber es ist das Gehör, welches uns am intimsten mit der Matrix unserer Existenz verbindet. In Hinblick auf die Lernfähigkeit erweisen sich Schädigungen des Gehörs fast immer als störender denn Beeinträchtigungen des Sehvermögens. Musik und Tanz, die Verschmelzung rhythmischer Klänge mit der Bewegung, beflügeln alle Lernvorgänge, und es ist tragisch, daß diese Fächer an unseren Schulen eine so untergeordnete Rolle spielen." George Leonard:
DER RHYTHMUS DES KOSMOS (1978), im Kapitel 'VIBRATO'
Ärwin Ängstirn Nr.5, 14.5.2012
IST LIVE-LITERATUR LITERATUR
LIVE, ALIVE ODER A LIFE?
heute ist wiedermal beuys' zombietag und ich in berlin auf der 14. langen buchnacht rund um die xberger
o-straße 2012. der reine zufall: spontaner kurzurlaub bei einer alten freundin am o-platz, ohne zu ahnen, daß ich genau pünktlich zum wichtigsten großereignis nach der maidemo, die keine mehr
ist, hier sein würde. nachdem ich mir in den letzten jahren die lesungen nicht mehr angetan hatte, nutze ich diesmal den günstigen umstand, um einige leute von früher zu sehen bzw zu hören, denn
das sollte die buchnacht ja sein: ein besonderer zuhörer-live-event! zum persönlichen auftakt hatte ich nachmittags schon das glück, nicht nur den textflex-veranstalter ERIK STEFFEN vor dessen eigener lesung von nachrufen auf kreuzberger originale im hof der "gitschiner 15" zu treffen sondern auch ECKHARD, der uns an der bierbank gegenüber saß und zunächst gar nicht viel sagte, aber aufmerksam zuhörte und manchmal nachdenklich nickte, wenn ich ihn beim
erzählen anschaute. jetzt fragte ich ihn einfach, ob er auch schriftsteller sei und durfte prompt in seinem handgeschriebenen manuskriptheft mit gesammelten kurzgeschichten blättern. beim titel
"draußenmensch" wurde ich instinktiv neugierig und las den nur anderthalbseitigen text mit allergrößter begeisterung: das war literatur pur! trotz meiner leseschwäche konnte ich diese kurzprosa
über das aufwachen eines obdachlosen im park in einem rutsch durchlesen, weil sie so flüssig und liebevoll, ja, wie ein warmer wortstrom geschrieben war, daß sie nicht nur das prädikat "absolut
authentisch" verdient hatte sondern darüber hinaus den respektvollen zusatz "hohe tiefenliteratur von ganz unten". ich hatte somit mein bestes
literaturerlebnis schon vor dem offiziellen beginn der buchnacht im schönsten sonnenschein, das war mir sofort klar, und konnte mich nun völlig erwartungslos auf den rest einlassen.
nachdem Erik ein paar seiner insider-nachrufe mit bissigem charme vorgetragen hatte, heizte MATT GRAU einigen hits des verstorbenen HADAYATULLAH HÜBSCH mit gitarre wieder revolutionäres leben ein: bei den legendären zeilen "arbeiten arbeiten arbeiten essen fassen essen fassen freizeit machen freizeit machen sentimental erklär mir das mal" wurde mir richtig melancholisch ums herz, denn ich kann Hadayatullahs süffisante stimme und seinen verschmitzten blick dazu noch so deutlich spüren, als stände er vor mir. gestern wird heute und doch nie mehr morgen sein. SEIN. nostalgische tränen lassen mein herz zentnerschwer in die magengrube abrutschen. runterschlucken! macht eh keinen sinn, den natürlichen lauf der vergänglichen dinge zu beweinen. was futsch is, is futsch. lieber schwelge ich in der exklusiven erinnerung an einen schrägen (und dabei kein bißchen verrückten sondern ernsthaft gesellschaftskritischen) dichter, der sich als MENSCH in meine seele eingebrannt hat und genieße es, ihn überhaupt gekannt zu haben. und lausche Matt, der wohl der einzige ist, der mit ähnlicher heftigkeit Hadayatullahs beatliteratur intonieren kann, ohne ihn peinlich zu imitieren. danach erstmal rausschleichen und an der bahntrasse entlang richtung epizentrum zurück schlendern.
die gitschi liegt etwas abseits, aber ich habe genug zeit, bis der angeblich "experimentelle" ALISTAIR NOON in der stadtbibliothek aus seinem neuen gedichtband vortragen soll, der auf dem postweg von england verschluckt wurde und daher erst bei seiner nächsten lesung gekauft werden kann. die büchereidame kündigt ihn mit der anekdote ihrer ersten begegnung an, die für sie einer wahren offenbarung glich, denn sie wußte anscheinend bis dato noch nicht, daß es eine sogenannte "lyrikszene" gab und das sogar in berlin! aber wo? und welche autoren, fragte sie sich. Alistair repräsentierte nun als ein lebender beweis die existenz einer solchen szene und las seine originalreime auch in deutscher übersetzung am stehpult stehend vor. schmunzeln und applaudieren des überwiegend sehr jungen publikums in den stuhlreihen zwischen den buchregalen. ich kenne Alistair seit 1998, als ich die objektlyrik-ausstellung im tacheles mitsamt autorenbegleitprogramm organisiert hatte, und hatte ihn seit damals nicht mehr gesehen. ich schleiche mich nach seinem ersten lyrikblock raus, um meine gastgeberin im "max & moritz" zu treffen, wo die hochliterarische hommage an HEINRICH BÖLL wie ein zweites hurz dahin galoppiert. der große saal hinten durch ist bestuhlt und eine ältere generation lauschst dem bemühten schauspieler andächtig beim rezitieren der böllschen zeilen. jeder kleinste versprecher zerstört die perfekte inszenierung, das jazzige saxophon lockert die stille dazwischen auf. Böll war im letzten jahrhundert wohl harter tobak für unsere republik, is ja auch nich umsonst nobelpreisträger geworden. eine ziemlich vergangene epoche lebt in der bieder expressiven darbietung auf. wieder anständiges applaudieren, neue nachtkonsumenten schieben sich durch die schiebetür rein, manche schleichen sich nach einigen textpassagen mit gebildeter miene hinaus. man gibt sich intellektuell, die "bildung" an sich klebt wie ein gespenst der aufklärung am stuck unter der decke. die buchnacht hat offensichtlich begonnen, die massen bewegen sich von einer location zur nächsten, die lesungen sind im programmheft chronologisch sortiert, was wirklich hilft, schnell zu entscheiden oder spontan umzudisponieren. einiges läuft parallel, aber ich habe das glück, alles für mich interessante so günstig hintereinander legen zu können, daß ich immer genug zeit haben werde, die veranstaltungsorte gemütlich zu wechseln. ICH LIEBE DAS LANGSAME SCHLENDERN DURCH DIESEN ZEITLOSEN KIEZ. während neukölln seit 2005 gentrifiziert wird, steht die zeit auf der o-straße irgendwie still wie eine wachsfigur aus den 70ern, die noch nicht in der arbeitslosigkeit weggeschmolzen ist sondern im sonnigen straßencafé festklebt. die revolutionäre versammlung der wachsfiguren im "bateau ivre". und da ich ja selbst bis vor kurzem noch einheimischer war, fühle ich mich immer noch etwas "antitouristisch" und kann den unprätenziösen flair des normalen alltages genießen, ohne beim aussprechen von "hauptstadt" der gefahr eines sensationsherzinfarktes zu erliegen. während die literaturfans mobil machen, hängt eine parallelwelt gleich um die ecke am spreekanal ab, wo das theaterschiff (ehemaliger nightclub "haifischbecken") auf seinen wortwörtlichen untergang wartet, eine andere welt tankt den gediegenen sonnenuntergang am muschelbedeckten sandstrand im düsseldorfer medienhafen - und wieviele parallelwelten gibt es auf unserem heimatplanet und darüber hinaus überhaupt... die besten schnappschüsse mit meinem handy liegen direkt vor mir wie glückspfennige auf der straße, ich brauche nur abdrücken und hochladen. die realität ist so künstlerisch wertvoll, daß nichts inszeniert werden muß, nur nebenbei bemerkt! und die technik erlaubt 2012 eine umsetzung in echtzeit, per bluetooth und internet, das ist für teenager normal, aber vor einigen jahren gab es das alles noch nicht. WIR LEBEN BEREITS HEUTE MITTEN IM TRIVIALSTEN SCIENCE-FICTION-ROMAN, das sollte man nie vergessen. wir sind die ersten biologischen html-senioren, unsere eltern mußten noch volkshochschulkurse besuchen, um mit dem schweren computer umgehen zu lernen, während wir mit einem minimonitor rumlaufen und ALLES MIT ÜBERNATÜRLICHER LEUCHTKRAFT ARCHIVIEREN, was erst in wenigen sekunden geschieht. in den 90ern des beuysböllschen jahrhunderts hat man noch mit diesen echten schreibmaschinen getippt und die echtpapierbriefe per echtpost an echte briefkästen versendet, das macht heute doch nur noch ein HEL TOUSSAINT, aber wo ist der eigentlich? auch MAX PFEIFER steht nicht mit seinem antiquarischen büchertisch "stimmenrausch" vor dem "goldenen hahn", aber im trojanischen "elefant" nebenan quetschen sich alle, um SARAH BOSETTI zu hören. ich bleibe im türrahmen stehen, das garantiert mir die nötige sauerstoffzufuhr, und bin erleichtert, daß diese slampoetin sehr unterhaltsam ist, intelligent und witzig. diese entscheidung war gut.
apropos: irgendein fußballspiel war gerade zuende, das tröten der autohupen erinnert mich an den wm-lärm während meines gigs auf der spreeprinzessin beim 48-stunden-neukölln-festival. hat das grölen der sieger eine literarische dimension? ist das vielleicht die unterschätzte lautmalerei der massen? jedenfalls wirkt der akustische effekt auf einen fußballbanausen wie mich heute tatsächlich konkreter als die konkrete poesie ;-) neben mir steht im türrahmen der künstler HUBERT und bittet die unentschlossenen auf der straße, sich etwas leiser mit dem programmheft zu beschäftigen, weil es die unsichtbare lesung drinnen stört. danach wandern wir ab in den "schnapphahn", um die wahre bezirksboheme in narzißtischer selbst- herrlichkeit zu erleben: den nuschelnden suhrkampsubversionssuffdichter JOHANNES JANSEN und den möchtegern-düsteren dichterfürst SCARDANELLI mit seiner brutal-metaphysisch kalten intonation von wörtern wie "güte" und "nichts". am anfang wird noch gelacht, weil es wie eine personenkult-persiflage wirkt. ich denke wieder an hurz, aber da diese beiden überjungs schon seit jahren ihr ritual routiniert abspulen, spürt auch der letzte zuhörer bald, daß es sich hier um genies handeln muß. ich finde noch einen sitzplatz bei Hubert, der auch plötzlich wie aus dem nichts auftaucht, hingebeamt (vielleicht ein jumper?), und seiner begleitung ANNETTE, die derzeit an einer prosa arbeitet und keine gedichte mehr schreibt. der rote rotwein ist lecker und ein vertrauliches gespräch über die seelischen motivationen, kunst zu machen, entflammt sich zwischen uns dreien. jetzt bin ich angekommen. die buchnacht ist ein privater erfolg. sich mit zwei fremden nach wenigen minuten so tiefsinnig darüber auszutauschen, warum wir dichten und malen, krönt diesen abend wortwörtlich live-literarisch im Kleistschen sinne: wir verfertigen unsere kostbarsten gedanken beim reden! ich habe das gefühl, mich alten freunden zu offenbaren, seelenverwandten, jedenfalls sympathie ohne szene-schnörkel. mein mund trocknet aus, ich habe mal wieder den ganzen nachmittag lang viel zu wenig getrunken, die beiden sind einverstanden: wir ziehen los nochmal zum "goldenen hahn", wo Matt Grau finalement ein weiteres mal auftreten soll, kaufen unterwegs billig getränke an einem kiosk, bei dem in einem winzigen untergeschossraum eine band spielt, wirklich cooles konzept, und sehen dann durch die scheibe vom hahn, daß wir zu spät sind, da wird nur rumgestanden, die literatur ist erledigt, und mehr als das übliche absaufen passiert hier um 1 uhr nicht. also schauen wir lieber stattdessen ins "so36" und sind begeistert vom sound der hellwachen bigband JUGOTONKA, die mitten auf der bunt flackernden tanzfläche konzertiert, umringt von einer fröhlich tanzenden schar, die diesen beat anscheinend als ultimative literatur empfindet! literatur als glücklichmacher? hat versagt! textfreier beat IST literatur pur! bei den rapeinlagen zwischendurch streikt das mikrofon, aber der rapper bemerkt es in seiner zuckung nicht. was nicht weiter tragisch ist. wir tanzen auch, ich zum ersten mal im legendären so36 (wo viele kultbands der 80er ihren wilden anfang nahmen), obwohl ich 14 jahre lang zeit gehabt hätte, als wahlberliner in dieser location zu feiern. aber nach dem abriss der MONBIJOUBAR-baracke, wo wir uns 1997 bis zum morgengrauen am spreeufer mit blick auf die museumsinsel vergnügten, verlor ich allmählich die lust am ausschweifenden nachtleben und versank immer tiefer im werkprozess. eine liebe folgte auf die nächste, und das wiederholte scheitern häufte sich aufs nächste. große liebe und beziehungsterror, internet und kunstprojekte, eine ewige affäre mit der lyrik, die sich als medizinisches wunder entpuppt, denn sie lässt sich nicht totkriegen, ist ein vampir, der die zeit totschlägt, bis eines tages die richtige seelenpartnerin auftaucht, um die poesie nicht mehr als liebesersatz zu mißbrauchen sondern als simple begleiterscheinung von direkt erfahrbarem antivirtuellen lebensglück. fing nicht das ganze theater mit lyrik im grunde bei der erfahrung von LIEBE an? oder zumindest beim MANGEL an selbstliebe? meine bezaubernde gastgeberin schläft schon seit stunden, als ich um 2 uhr verschwitzt über den dächern vom oranienplatz auf das blaue sofa sinke und mich auf den gemeinsamen kaffee freue, bevor sie viel zu früh morgens zur arbeit geht, während ich diesen bericht abliefere. aber für wen eigentlich? vielleicht nur für meine ferne geliebte, damit wir unsere lebengeschichten teilen, solange das leben unteilbar dahin plätschert? kennt sie mich dadurch denn besser? kenne ich sie überhaupt? wer sind wir? was wollen wir? und wie lange dauert das ganze spektakel, das sich so gnadenlos LEBEN nennt? LEBEN!
ich warte nicht mehr, ich muß raus in die sonne, obwohl ich verkatert und müde bin, um zuerst Annette im kuchencafé am engelsbecken zu treffen, wo sie mir aus ihrem manuskript vorlesen will, und dann vor dem slambeginn im "kaffee burger" ARND MORITZ kennen zu lernen, von dem ich ohne computer nicht wüßte. es gibt keinen widerspruch zwischen virtualität und realität, es gibt nur die schnittstelle im herz, wo beides zusammenläuft. wenn ich diesen ort wie einen inneren tempel aufsuche, wo beide erfahrungsseiten in friedlicher ergänzung parallel zueinander wohnen, kann ich jede handlung als folge der inneren ganzheit genießen und brauche mich nicht zu entscheiden: zwischen kunst oder leben, politik oder party, computer und sonne, liebe und werk, gefühl oder sprache, geist oder sinnlichkeit - alles ist jetzt erlaubt, alles ist leben, alles ist dieses ungeheuerliche abenteuer mitten im universum, umgeben von sternhaufen und haufenweise leere dazwischen. wow, was für eine buchnacht! was für ein schönes berlin! ich denke an dich, wenn ich wieder daheim bin. du bist die hauptstadt, aber ich brauche wahrhaftig keinerlei szene, denn das ekstatische entertainment findet entweder in meiner eigenen wahrnehmung oder verflucht nochmal gar nicht statt! JEDER MENSCH IST SEINE EIGENE SZENE - ZUSAMMEN SPIELEN WIR WELTTHEATER... ist das die verbotene moral der geschichte? welche geschichte???