"Wenn aber das Publikum sich mit dem konkreten Universum identifizierte, dann hätte der Schriftsteller wahrlich über die menschliche Totalität zu schreiben.
Nicht über den abstrakten Menschen aller Zeiten und für einen zeitlosen Leser, sondern über jeden Menschen seiner Epoche und für seine Zeitgenossen. Plötzlich wäre die literarische Antinomie der
lyrischen Subjektivität und der objektiven Zeugenschaft überwunden. Demselben Abenteuer verpflichtet wie seine Leser und genau wie sie in eine einheitliche Gemeinschaft hineingestellt, würde der
Schriftsteller, wenn er von ihnen spricht, von sich selber sprechen und, wenn er von sich selber spricht, über sie sprechen. (...) wenn die Literatur sich eines Tages ihres Wesens erfreuen soll,
dann wird der Schriftsteller ohne Klasse, ohne Kollegen, ohne Salons, ohne großartige Ehrungen, ohne Würdelosigkeit in die Welt und unter die Menschen geworfen werden, (...) er wird wissen, daß
ihm nicht die Anbetung des Geistigen zukommt, sondern die Vergeistigung. Vergeistigung - das heißt: WIEDERINBESITZNAHME. Und es gibt nichts anderes zu vergeistigen und nichts anderes wieder in
Besitz zu nehmen als diese bunte und konkrete Welt ... Der Schriftsteller wird die Welt unverändert wieder in Besitz nehmen - ganz roh, schwitzend, stinkend, alltäglich, um sie auf der Grundlage
einer Freiheit Freiheiten darzubieten. (...) die Literatur ist, ihrem Wesen nach, die Subjektivität einer in permanenter Revolution befindlichen Gesellschaft. In einer solchen Gesellschaft würde
sie den Widerspruch von Wort und Tat überwinden. (...) In einer Gemeinschaft, die immer wieder zur Besinnung kommt, sich beurteilt und verwandelt, kann das geschriebene Werk eine wesentliche
Voraussetzung zur Tat sein, d.h. das Moment eines reflektiven Bewußtseins. So würde in einer nicht erstarrten Gesellschaft ohne Klassen und ohne Diktatur die Literatur ganz ihrer selbst bewußt
werden: sie würde begreifen, daß Form und Inhalt, daß Publikum und Stoff identisch sind, daß die formale Freiheit des Redens und die materielle Freiheit des Handelns sich gegenseitig ergänzen
(...) Selbstverständlich handelt es sich hier um eine Utopie: es ist möglich, eine solche Gesellschaft sich vorzustellen, aber wir verfügen praktisch über kein Mittel, sie zu
verwirklichen."
Jean-Paul Sartre, in: WAS IST LITERATUR? (1950)
Tom de Toys, 19.5.2004
LiTERaTUR iST TOTaL iNTiM
(NEUKÖLLN HaT MEHR STiL aLS KÖLN)
ich habe heut morgen einen test gemacht. dachte mir: warum nicht mal in der jogginghose zum bäcker gehn? dazu die pantoffeln, ohne socken,
und die haare schnell zum unordentlichen zopf gemacht. außerdem ungewaschen, unter dem alten pullover das verschwitzte nachthemd. den muffigen geschmack im mund nur mit kaffee überlagert. den
schlaf noch in den verquollenen augen und mir den weg bahnen zwischen der hundescheiße mit absolut lässig klimperndem schlüsselbund. und gleich vorne schon um die ecke biegen, wo mir die ersten
strahlen unseres kosmischen kraftwerkes entgegen springen - es ist halb sieben, ich betrete die sonnenallee. aaah! ich bin geblendet. meine augen tränen. ich schwanke und halte mich an der
laterne fest. der letzte traum versinkt endgültig im nicht mehr abrufbaren gedächnis. mein bezirk heißt: NEUKÖLLN. und ich liebe ihn sooo seeehr! denn nur hier kann man als dichter ungestört
dichten, hier ist die literatur noch total intim! wenn ich morgens früh durch den wecker meiner freundin wach werde und nach einem koffeinschock auf dem klo sitze, kann es passieren, daß trotz
gestank, hektik und schlaftrunkenheit plötzlich der entscheidende kick für ein liebesgedicht aus dem hintersten hirnwinkel kommt, und dann hängt
man eben ne weile auf der toilette fest - ich meine: da hat man wenigstens seine ruhe, und alle gedanken, gefühle, erlebnisse und ereignisse der letzten wochen können jetzt wunderbar ungestört
auf den punkt gebracht werden. das ist doch wie beim meditieren! du sitzt einfach da (und drückst und drückst) und ganz nebenbei schreibst du fein säuberlich buchstabe für buchstabe auf... was ja
nicht heißt, daß man gleich "hohe literatur" fabriziert, aber immerhin hält man sich dadurch zumindest ein bißchen geistig fit. mit so schwierigen lyrischen zeilen, die fast schon ins mystische
gehn, wie zum beispiel: >> OH DU / MEIN GELIEBTER SCHMETTERLING / BIST DOCH FÜR MICH / DAS SCHÖNSTE DING << wer denkt da nicht gleich an den guten alten deutschen idealismus,
das gute, wahre und schöne bei Kant und Platons ding-an-sich! und natürlich die zen-buddhistische symbolsprache bei haikus! ja, solche altehrwürdigen metaphern für die seele, die liebe und
überhaupt: die letzten wahrheiten rücken endlich mit all diesen poetischen wörtern in greifbare nähe! also, nach ein paar zeilen fühl ich mich richtig befreit, ja fast schwerelos, und diese
erhabene stimmung wächst in mir, bis ich ganz tief in mir spüre:
"ich. bin. ein. genie!"
und danach mache ich diesen test mit der jogginghose. und beweise mir wiedermal, in was für einem vorzüglichen stadtteil ich wohne, denn hier in NEUKÖLLN kann man noch rumlaufen, wie man will.
hier rechnet sowieso keiner damit, ein genie auf der straße zu treffen! während ich ÜBERALL nach iiiiiirgendwas aussehen muß, im Prenzlauer Berg nach neuer Mitte, in Friedrichshain nach alter
Mitte, in Kreuzberg nach 80er-jahre-retro, Charlottenburg... kapier ich nicht ganz, Zehlendorf... steht nicht zur debatte - ach ja, Wedding: da zieht man sich auch an, wie man will (außer
samstags in der disco). na gut, jedenfalls standen heut morgen am stehtisch beim bäcker drei kerle, die ganz offensichtlich zum arbeitenden volk gehören. die tranken ihren kaffee wichtig wichtig,
als ob sie mit einem fuß schon auf ihrer tollen baustelle stünden. so pseudo-ex-Potsdamer-Platz möchtegern-Lehrter-Stadtbahnhof-in-Hauptbahnhof-umwandler. und die, ausgerechnet die, mit ihren
zeitlosen latzhosen und seitenscheiteln, die machten sich nun über mich lustig, weil ich (zugegebenermaßen) völlig bescheuert aussah, so ganz incognito, ohne schwarzen szenelook. eben als
superdichter superprivat getarnt. ich bin mir ziiiiiiemlich sicher, daß die nicht aus meinem bezirk waren, so wie die mich anglotzten. und daß die mich dazu inspirierten, diesen ganzen quatsch
sogar aufzuschreiben, konnten sie in dem moment wohl auch kaum ahnen.