"Wie Sie, weiß auch ich nicht genau, was Ihnen und mir bevorsteht in der Performance von Tom Toys. In den verschlungenen, verwirrenden, übersprudelnden Wortkaskaden, die er mir als eine Art verbindlich-unverbindlicher Information zur Verfügung gestellt hat, blitzt in einem Moment im Paradox Sinn auf, der im nächsten in nochmals übersteigerter Metaparadoxie aufgehoben wird. Doch eines glaube ich sagen zu können: Wer die fiebrigen Unruhelinien seismographischer Erschütterung und Betroffenheit nicht durchspürt in den benutzten Versatzstücken von Sprache, die in einer Art Vernutzungsorgie - so mein Eindruck - zu einem neuen Klang geführt werden soll, wer gar nur Clownerie zu entdecken vermeint, der verfehlt eine wesentliche Dimension, dem entgeht die Transformation in der Performation, auf die ich mit Ihnen gespannt bin. Kontrollierter Absturz - d.h. zwischen Chaos und Ordnung ein gefährdeter Platz, ein gefährdeter Platz des Zwischen für den Menschen."
Josef Rauscher, in: Unterlassene Hilfeleistung - Anmutungen und Zumutungen
(24.5.92), Vortrag zur Ausstellungseröffnung von Werner Neumann & Sibylle Peretti im Kunstraum Eisenstein (Galerie Sellner)
Prof. Dr. Josef Rauscher
POST FESTUM 24.5.1992
Zur Performance "KONTROLLIERTER ABSTURZ" von Tom de Toys
Als ich in meiner Rede zur Ausstellungseröffnung auf Tom de Toys zu sprechen kam, sagte ich wenig mehr als: "Ich weiß nicht". Das war wahr
gesprochen und tatsächlich weiß ich auch jetzt nicht, ob ihm je zuvor eine Performance gelang, weiß auch jetzt nicht, ob ihm je eine weitere gelingen wird. Sicher weiß ich: diese Performance im
Kunstraum Eisenstein ist gelungen, merkbar gelungen.
Mit Performances habe ich oft Schwierigkeiten, vielleicht, dass ich nicht sensibel genug bin, vielleicht, dass ich überempfindlich bin. Mal sind sie mir zu prätentiös, mal zu wenig
bedeutungsschwanger. Und dann leide ich an mir und der Performance zugleich, bin mal höflich, mal verärgert, empfinde mich gleichzeitig als hochtrabend und ignorant und doch auch wieder als nicht
ernstgenommen und wirklich besser wissend.
In diese unerquickliche Situation brachte mich auch sofort Tom de Toys mit dem ersten Ruf. Als sich dann meine peinliche Beklemmung im Verlauf immer mehr verflüchtigte, wurde mir auch bewusst,
wie wenig Chancen ich eigentlich einer Geschichte gab, wenn ich schon beim ersten Ruf Prätentiosität zu spüren vermeine. So bin ich dem geschickten Künstler nicht zuletzt dafür dankbar, dass er
mich von der Fixierung eines generalisierten Vorurteils ein wenig freistellte, mir den Freiraum öffnete für ein einfaches Genießen einer Performance.
Tom de Toys' Schrei von und nach der Brücke, der Schrei von der Brücke aus nach Überbrückung zu weiß Gott welchen Ufern, hat keinen eindeutigen Gehalt, er gewinnt im Verlauf eine vielschichtige
Sinndimension im Zwischen von Kunst und Leben, von Zeichen und Gegenstand, von Sein und Schein.
Blutig, durch rotgetränkte Verbände gefesselt, stellt er ein Opfer dar, so einsichtig, dass hilfreiche Passanten die Polizei rufen, nicht um ungehöriger Kunst zu wehren, sondern um außerhalb des
Kunstraums Hilfe zu leisten.
Scheint doch der Unglückliche AUF die Brücke gelangen zu wollen, um zum realen – für die Zuschauer zum imaginierten – Ufer zu gelangen. Doch der gefesselte Prometheus, der mit einem gigantischen
Knochen den Stein in dumpfen Schlägen, deren Hall das Brückengewölbe zu der Gemeinde weiterträgt, zu erweichen sucht, rutscht ab bis zum Ufer des Bachs, ein tödlich verletzter Adonis. Eine
kunstverständige Dame fühlte sich an Adonis erinnert, und dieses Bild trifft sicher assoziativ am ehesten zu, in der Schönheit und Feier des Leibes und des Lebens, wie in der Verwundung, an
welcher der klassische Adonis stirbt.
Dem sterbenden Adonis gleicht Tom de Toys dort am Ufer, mehr Wunde denn schöner Leib. Doch wir erfahren die Umkehrung der Geschichte. Denn am Ufer richtet sich der menschgewordene Torso aus
Sibylle Perettis Universum der Schmerz- und Leidensfiguren, der todwunde Adonis auf, streift die Fesselungen ab, steigt – nun schon näher am lebenden Adonis – ins Wasser zwischen Verkündigung
Johannes und Bespiegelung des Narziss schwankend und begrünt die Steine wie Dionysos, wie Dionysos aus blutigem Opfer – in diesem Falle Rinderherz – Leben schaffend. Nun ich will mich nicht über
alle Grenzen forttragen lassen, recte also: Leben schaffen symbolisierend, lebend und schaffend.
Die grüne Farbe, die er auf sein Herz – mittels Rinderherz? – im Rhythmus des Herzschlags aufbringt, gewinnt Leben, atmet durch den Körper. Oder bringen die Schläge an die Brust erst sein Herz in
den richtigen Rhythmus? In gewisser Weise belebt er in diesem Gestus erfolgreich den Stein, in der symbolischen Handlung und indem er mit symbolischen Zeichen des Lebens den Stein bemalt.
Bei soviel leicht exerzierter Bedeutungsschwere wird dann auch ein Gag wieder leicht möglich ohne – weder Zuschauer noch Bedeutung – zu erschlagen.
Der verwunderte Ruf: "Wo sind die Fische?" – ist sicher ein Gag, ein freier Scherz in einem freien Spiel. Doch er ist auch eine Frage, zwischen Mensch und Natur, die sich uns im postindustriellen
Zeitalter bei zahlreichen Gewässern, gebe Gott nicht in Bayerisch Eisenstein, bedeutungsschwer aufdrängt. Die Grenze zwischen bloßem Gag und vertrackter Bedeutung verwischt.
Die Grenze zwischen Kunst und Leben, zwischen Diesseits und Jenseits überbrücken wollen, die unsichtbare Grenze zwischen Leib und Leiblichkeit und ZEICHEN für Leib und Leiblichkeit ausloten, das
schien mir der Dreh- und Angelpunkt der Performance.
Schmerz und Lust, Blut und Farbe, Spiel und Ernst, reiner Gag und Anflug von Bedeutung stehen in wechselseitiger Verweisungsrelation.
Die flockige Schlussreplik, die alle Bedeutungsschwere und Symbolbeladenheit in heiteres Nichts auflöste: "Es gibt keine Brücke", brachte für mich das Ganze auf den richtigen Nenner. Nicht weil
sie bekundet: es ist alles nichts, sondern weil sie die Grenze selbst in den Raum des Lebens, in den Raum des Seins legt. Wir bewegen uns immer schon im Sprachspiel, wir stehen immer schon im
Leben, wir sind immer schon in der Geschichte -, woraus folgt, suche nicht nach der Brücke zur Bedeutung, schaue nicht aufs Jenseits, dann findest Du im Leben die Kunst, in der Beliebigkeit die
Bedeutung, im Diesseits das Jenseitige.
Sicher spielte alles mit in dieser Performance, das Wasser des Bachs, der wunderbare Weg den Bach entlang, der ja auch ohne Performance ereignishaft ist, die Sonne und auch – etwelche wirklich
Interessierte, Offene für die Bilder zwischen Körper und Zeichen, Natur und Kunst, Symbol und Leben.
Ja, sogar die Polizei. Die Polizisten, bodenständig bayerisch zu Hilfe geeilt und kunstverständig genug, die unsichtbare Grenze Kunst zu erkennen und zu respektieren, sahen ihr Metier nicht
berührt, und ließen dem Spektakel seinen Lauf.
Ich weiß nicht, ob Tom de Toys eine weitere Performance so glücken kann, sicher kann er größeren Erfolg erzielen. Gerade dann aber mag es vielleicht gut tun zu wissen, einmal gelang der
Drahtseilakt tatsächlich, einmal der Tanz auf der wirklich-unwirklichen Grenze zwischen Leben und Kunst. Und so bedauerlich es ist, dass keine angemessene Dokumentation von dieser Performance
existiert, vielleicht ist die angemessenste Weise der Bewahrung gerade dieses Loslassen vom Haben in der Konservierung, das Freigeben in das, was es gewesen ist, ein geglückter Moment.
(Erstveröffentlichung in:
"Geheimes Wartungsbuch Ohne Ende.
Für Eine Welt Ohne Größenwahn", G&GN 1993)