Lord Lässig: TACHELESGEREDE (Vorstudie zur Skandalchronik "TACHELES REDEN!")

 

"Ich wünsche mir eine Bewegung des kritischen Journalismus, in der sich all jene zusammenschließen, die sich mit der Zensur durch Geld und Macht, wie sie von ihren nächsten Vorgesetzten praktiziert wird, nicht abfinden wollen, und die sich verleugnen müssen zugunsten irgendwelcher überbezahlter und unterwürfiger Vorgesetzter. In Zusammenarbeit mit ihnen könnten die Wissenschaftler den Auswirkungen der Entpolitisierung, welche die Medien erzeugen, entgegenwirken und geeignete Maßnahmen ergreifen, um die Tyrannei der ökonomischen Kräfte einzuschränken."
Pierre Bourdieu, in: Die Welt entfatalisieren (Interview 1997)

 

Lord Lässig, 15.+17.12.2003, niedergeschrieben im Café Voss
(Vorstudie zur Skandalchronik "TACHELES REDEN!")

TACHELESGEREDE

 


Voyeurismus auf sämtlichen Etagen, das verkauft sich sehr gut, und was sich verkauft, liegt ziemlich schnell im Trend. Und was im Trend liegt, nennen wir Zeitgeist. Und der ist wiederum Nahrung für das leere Hirn. Wenn ich meiner Logik bis hier folge, schließt sich der Kreis schon schneller als erwartet, denn es gibt anscheinend den Voyeurismus ersten und zweiten Grades: Der erste ist der direkte, wenn der Szenetourist von einem Event zum nächsten hetzt, der zweite dementsprechend der indirekte, wenn der Heimtourist nach medialer Aufbereitung des Versäumten lechzt. Die autosuggestiven Konsumrituale der postmodernen Desinteresse-Gesellschaft heißen also Het-Zen und Lech-Zen.

Es geht schon längst nicht mehr ums visionäre ÜBER-Leben sondern nur noch ums virtuelle Überleben. Und das auf sämtlichen Etagen. Nun hat das Kunsthaus Tacheles ganze fünf davon, mit Kellergeschossen sogar mehr. Aber wir zählen die Wasserleichen heute nicht, denn es ist ein schöner Tag. Ein schöner Tag in Berlin-Mitte. Die Baulücke wurde rechts geschlossen, Captain Nemos Brandwand links so strahlend weiß renoviert, daß sie vom Fernsehturm aus kräftiger leuchtet als die Kuppel der Synagoge. Ansonsten wirkt die Oranienburger Straße grau wie immer, abgesehen von den bunt glitzernden Prostituierten, deren permanente Performance weiterhin als gesellschaftskritischste Kunstaktion der Neuen Mitte gilt. Ein Event, den sich nicht jeder leisten kann, ein Event mit Tradition. Ein Atelier im sogenannten Kunsthaus ist da schon billiger, denn die Mieten heißen hier Betriebskosten und liegen weit unter Hotel Adlon, jedenfalls solange die Fenster im Ausstellungsflur bei voll aufgedrehten Heizungen verschlossen bleiben.

Und Tradition hat das Tacheles immerhin auch, liest man oft genug in Flugzeugmagazinen und Reiseführern, besonders die Prostitution der Kunst, die dort manchmal feilgeboten wird. Von chemielabor-ähnlichen psychedelischen Installationen bis zu seriell-perfekten Zitronenstilleben hat es dort alles schon gegeben - Retroavantgarde zu Flohmarktpreisen. Zwei unentdeckte Genies haben den Absprung nicht geschafft: ein dalinistisch-begnadeter Ölmaler mit provokant-perversen Fantasien und ein dadaistisch-unbestechlicher Fotograf mit trashig-reliefartigen Dokumentarcollagen auf Industriekarton. Abgesehen von diesen Tachelanern sind all jene Künstler unter dem Motto "KUNST STATT KAMPF" geflüchtet, die sich für einen kollegialen Familiensinn engagiert hatten.

Gefeuert wurde auch der alte Vorstand mit einer kompetenten und sensiblen Kunsthistorikerin an seiner Spitze, gefeuert unter dem taktischen Vorwurf, zu viele Kompromisse in den Verhandlungen mit dem neuen Besitzer, der Investorengruppe Fundus, eingehen zu wollen. Totsaniert wurde dann allerdings erst unter Regie des bis heute amtierenden neugewählten Vorstandes und verdrängt wurde gänzlich, daß es nur der Kommunikationsbereitschaft des alten Tachelesenteams zu verdanken ist, daß überhaupt konstruktive Gespräche zwischen dem Senat, dem Investor und den Hausbesetzern zur Legalisierung führten. Ein weiser Blinder mit Zauberflöte spielte dabei keine unwichtige Rolle. Heute herrscht eine kultivierte Totenstille im Tacheles, denn die mumifizierte Legende täuscht nicht gut genug darüber hinweg, daß die Alltagsroutine hier von ebenso kunstfeindlichen, egomanen Machtmenschen bestimmt wird, wie wir es von der allgemeinen Kulturpolitik gewöhnt sind.

Damit bleibt das angebliche Kunsthaus seiner eigenen bisher geheimen Geschichte hinter den neuen Glasfassaden treu: ein gruseliger Abklatsch der Desinteresse-Gesellschaft zu sein statt Vorreiter in eine poetisierte Zukunft - der Vergleich mit dem von Asbest befreiten Palast der Republik drängt sich auf, obwohl die politischen Fronten scheinbar andere waren: hier wie dort stellte man sich brutal gegen die Bedürfnisse des Volkes, um den eigenen Machtanspruch zu sichern. Und das zum Alibi degradierte subversionslose Künstlervölkchen der neuen Zeitrechnung hat keine Chance, den Aufstand des Mitspracherechtes zu proben, weil die Mietverträge kurz genug bemessen sind, um gar nicht erst zu ahnen, wie man ganz legal und superhöflich um eine Vision betrogen wird. Nach dem Aufbau der Staffelei schnuppert man ein bißchen Graffitiluft bei cooler Drum'N'Bass-Musik, entziffert die vergilbten Plakatfetzen und erlebt den ein oder anderen bombastisch hohlen, aber geförderten Routine-Event.

Vernebelt von der Hoffnung, an einer lebenden Legende teilzuhaben, spielt man so ganz stolz und anständig eine Weile Atelierparty oder buhlt um Anerkennung bei den Machthabern, indem man deren eingefrorene Grimassen imitiert. Bis schließlich dann der nächste Künstler schon ans Türchen klopft, um auch einmal in die vermeintlich prestigeträchtige Touristenattraktionsfalle zu tappen. WILLKOMMEN IM DISNEYLAND DER SUBKULTUR-ZOMBIES ! Ein Sprichwort besagt, daß es für die Vita vorteilhafter ausschaut, im Tacheles gewesen zu sein als grade drin zu sein. Das gilt wohl täglich mehr denn je...


Erstveröffentlichung in:
"NeUROZeN / HaU SaUF GaBEN"

(Co-Autor: Herold Himmelfahrt), G&GN-Verlag, Berlin 2004

 

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