"(...) / Superfans, Dichterlinge, alternde Beatniks & Deadheads, Autogrammjäger, vornehme Paparazzi, intelligente Glotzer / Alle wußten sie waren Teil der
'Geschichte', außer dem Verblichenen / der aber auch zu meinen Lebzeiten nie richtig wußte, was denn nun eigentlich los war. //"
Allen Ginsberg, in: TOD & RUHM (1997)
"GIBT ES ETWAS, DAS GESPENSTISCHER WÄRE ALS DIESER DEUTSCHE KULTURBETRIEB MIT DEM FORTWÄHRENDEN RUF NACH STIL ETC.? WO BLEIBT IHR STIL, WO BLEIBT IHR STIL? HABEN
SIE DENN KEINE GUTEN MANIEREN?"
Rolf Dieter Brinkmann, in: DIE PILOTEN
(1968)
"...in der ersten Lesung, die ich jemals besuchte, versteckte sich ein gewisser Rainer Schedlinski hinter dem Turm seiner Suhrkamp-Veröffentlichungen und nuschelte Lyrik durch den Nikotin. Das war 1992 in Köln, und ich dachte bereits nach wenigen Minuten daran zu fliehen..."
Ärwin Ängstirn Nr.3, in: LÄKTORITIS PLAGIJATIS -
NAME-DROPPING & FAME-FLOPPING PART 2 (2002)
"Die Betriebsblindheit der Berufsjammerlyriker begann 2003 mit der Anthologie 'Lyrik von JETZT' : eine ganze Generation arrogant degenerierter Nachwuchsautoren erstickt nun in anachronistisch-autistischen Scheinproblemen, während ihre Formverliebtheit immer hohler wird."
Tom de Toys, in: Das Podium ist sein eigenes Publikum
(Tweet #fokuslyrik, 9.3.2019 @LYRIKKONGRESS)
Ärwin Ängstirn Nr.4, 21.10.2011 (9-11h)
- inspiriert durch Lyrikzeitungsdebatten -
"FRAGEN EINES GENIES"
(DIE UNGEHALTENEN VORLESUNGEN, Teil 1)
meine verehrten damen und herren, liebe lyrikfreunde, [LIVE: vielen dank, daß sie mich nicht im stich gelassen haben, der hörsaal ist zu 99% ausgelastet, so daß
ich die andere hälfte meines honorars höchstwahrscheinlich auch noch erhalte; OFF: gelächter aus der obersten reihe] es ist ja gewissermaßen ein kleines weltwunder, daß meine fragen zur
literatur nun doch zu meinen eigenen lebzeiten von jenen beachtet werden, die mich vor der völlig unerwarteten preisverleihung mit professioneller ignoranz straften. ich bin mir natürlich darüber
bewußt, wie sehr diese AVERSION & ANGST gegenüber der "Direkten Dichtung" vorallem meiner person zu verschulden ist. aber ich bin damit ja
glücklicherweise kein einzelfall, denn im grunde wartet die ganze gesellschaft am liebsten auf unseren tod, denn dann braucht man sich nicht mehr mit uns darüber zu zanken, wie wir unser werk
SELBST interpretieren. viel mehr geld lässt sich da rausholen, wenn jeder sein eigenes buch mit sekundärliteratur auf den markt bringen kann! aber nun stehe ich hier und bin quasi gezwungen, den
leibhaftigen stellvertreter aller genies zu spielen, aller unbekannten und toten, aller ungeborenen und verkannten. das ist eine große aufgabe, die man nicht eben mal schnell mit links erfüllt.
und darum erlaube ich mir, heute mal ausnahmsweise nicht frei zu sprechen, sondern vom blatt abzulesen, wie sie ja bereits bemerkt haben, denn es sind sehr große blätter und sehr viele. und die
buchstaben sind sogar so groß, daß man schon fast von der letzten reihe aus sehen kann, was ich als nächstes sage. nun, ich bin weitsichtig, das ist der einzige grund für diesen papieraufwand:
all diese wörter aus allernächster nähe in richtiger reihenfolge abzulesen, geht so wesentlich leichter und ermöglichst, daß womit bis wieso oder ja nur weil wenn gegenwart abgesehen die darüber
literatur könnte damit inwiefern dessen leser wodurch der rezeption für inwieweit analyse substanz interaktion dem der dessen literatur hätte die... ein
moment, jetzt bin ich doch in der zeile verrutscht, ach ja, hier: das problem an der lyrik ist ja ein anderes. wenn ich als lyriker eine metapher ins spiel bringe, die großartig und rätselhaft
klingt, ist die wahrscheinlichkeit groß, daß ich hier lande, wo ich jetzt stehe, denn in den jahrzehnten davor wird sich meine leserschaft multiplizieren und spätestens wenn die werbung für
meinen gedichtband mit diesem zusatz versehen wird "bestseller in tausendster überarbeiteter auflage", dann klingelt das telefon und irgendein literaturverein will sich mit einem schmücken und
schenkt einem als gegenleistung dafür einen preis. "das ist doch ein deal", werden sie mir jetzt zurufen, meine verehrten zuhörer! wer von uns würde da nein sagen. denn
man hat ja noch keine verpflichtungen dadurch. man braucht eigentlich gar nichts zu tun, außer den preisträger zu spielen. danach läuft der rest wie am schnürchen. ein preis nach dem anderen
folgt, aus dem bestseller wird ein bahnbrechender megabestseller, aus mir wird ein superstar, und je nach sendeanstalt sogar ein medienliebling und für diverse skandalzeitungen ein enfant
terrible, ja und auf den ubahn-monitoren müßten sie meine visage tagtäglich mit neuen sensationsmeldungen aus meinem banalen aufgeblasenen privatleben
ertragen, die sich meine agentur ausgedacht hat, damit sie mich nie mehr vergessen. das gemeine daran ist eben nur, daß man ja nichts davon wirklich ist. man ist mensch. lächerlich einfacher
bürger, fast möchte ich sagen: ein stinknormaler schriftsteller wie jeder x-beliebige schornsteinfeger, im weitesten sinne künstler. und künstler gibt es wie sand am meer. denn die
kreativität ist kein privileg von genies sondern das markenzeichen der rasse mensch. WIR SIND KREATIV. wenn wir es nicht wären, gäbe es keine wolkenkratzer [LIVE: bzw manche gäbe es
dann noch; OFF: gelächter aus der obersten reihe] und keine einzige technologie, um das überleben der zivilisation zu garantieren. unsere welt wurde nicht nur von genies erfunden
sondern von jedem anständigen arbeiter, der sein persönliches leben wie eine ameise dem allgemeinwohl opfert. an diesem punkt fragen sie sich zu recht,
worüber ich eigentlich rede. es geht hier um fragen der literatur und diese vermeintlichen
fragen sind nicht von den fragen zu trennen, die man ans GANZE stellt, denn literatur hat die aufgabe, die fragen zu fragen, die jeden betreffen und doch nie gestellt werden. literatur ist
das normale und das besondere, das gewaltige und das nebensächliche. literatur hat das ziel, einen leser zu fesseln. zu fesseln mit seinen eigenen fragen, die er sich nicht traut zu stellen. DAS
ist eine verpflichtung des lyrikers, nicht dieser preisdingsbums-hokuspokus! warum sage ich "genie"? weil wir den unterschied machen zwischen menschen, die sich das zutrauen, solche fragen zu
stellen, und jenen, die sich das nicht zutrauen, sondern froh sind, darüber ein buch zu finden, was sie im innersten bewegt. und ich sage "im innersten", weil es in der literatur um die SEELE
geht. es geht immer nur um die seele!!! und weil keiner jemals eine seele sah, gibt es so viel literatur und so viele genies!!! das ist so ähnlich wie mit den elektronen und
quanten: noch nie sah ein physiker so ein kleines ding unter dem mikroskop, als wäre es eine amöbe, die einem
zuwinkt. es sind nur metaphern. wie jedes wort. auch das wort WORT ist nur eine metapher. wenn wir uns in den strudel des wortes WORT fallen lassen, das wort an uns
heranzoomen und zwischen seinen atomen hindurchfliegen, dann landen wir in einer gigantischen leere, die wie eine unendliche geistermembran durch unsere zellen vibriert und nichts sagt außer
joooooooooo [LIVE: 1-minütiger popschamanischer sprechgesang mit ausgebreiteten armen] und uns spüren lässt, daß literatur nur aus buchstaben besteht. weder aus geist noch aus irgendeinem anderen stoff. es sind BUCHSTABEN. und jeder einzelne buchstabe wird von uns interpretiert. wenn wir
sie nicht interpretieren, bleiben sie harmlose ornamente wie ein abstraktes bild, das einem gefällt oder nicht. erst das LESEN macht einen text zu LITERATUR. erst das lesen ermöglicht den
buchstaben, als ding interpretiert zu werden. solange ich wörter wie dinge anschaue, lese ich nicht, welches ding sie meinen, sondern behandel sie selbst wie ein
ding. und genau das interessiert mich: die kraft eines konkreten buchstabens als ornament anstatt als rein geistiges symbol für das ding, auf das sich das wort bezieht,
wenn man die buchstaben zu einer kette verdichtet und sie als wort liest. ich will die buchstaben. die einzelnen buchstaben aller sprachen. ich will das ganze
spektakel von ah bis zett wie ein feuerwerk! ich will diese sensation aus allen nichtinterpretierbaren buchstaben! diese
gedankenlose ekstase der geistigen leere! dieses erleben der einzelnen buchstaben, wie sie vor meinen augen als lichtpunkte tanzen! dieses glühen von innen! dieses selbstreferenzielle
denken der wörter, ohne gedacht zu werden: DIE WÖRTER DENKEN SICH SELBST. jeder buchstabe bleibt buchstabe und spricht aus sich selbst seinen eigenen klang. das ist
literatur! das ist ein wagnis! eine mystische zone, die sich wie eine landschaft hinter den wörtern öffnet, wenn man in sie hineintaucht und tiefer schaut, tiefer und tiefer hineinschaut in die
struktur der moleküle der buchstaben. zurückkehren kann man ja jederzeit, und das buch einfach normal weiterlesen, als wäre nichts weiter geschehen. das ist nicht das problem. das problem fängt erst an, spannend zu werden, wenn man sich traut, diesen normalen begriff von literatur einmal beiseite zu
lassen und dann tatsächlich hineintaucht in den bereich ZWISCHEN DEN BUCHSTABEN. denn dort, und nur dort, wohnt das geheimnis, von dem alle wörter drumherum eigentlich sprechen. so...
einfach... ist das! das muß einmal gesagt sein. liebe anwesenden. liebe studenten, liebe doZENten, liebe kollegen, liebe kinder: ich hoffe, ich konnte ein wenig von meinen fragen an die literatur
schmackhaft machen und ihnen irgendwie vermitteln, wie wichtig mir solche grauzonen der sprache sind. von dieser vorlesung bleibt leider nichts übrig als eine bleiwüste oder im internet ein paar leuchtende punkte, die wir als buchstaben interpretieren. zoomen sie einfach das letzte wort richtig groß, gehen sie bis an die
grenze des arbeitsspeichers und darüber hinaus! mit dem ERROR auf ihrem monitor fängt das ganze erst an, richtig spannend zu werden. ich danke ihnen für so viel aufmerksamkeit. kommen sie gut
nach hause und bleiben sie ges U N D
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