"Es hat sich dahin entwickelt, daß die Ansprüche an die Texte immer niedriger wurden und das Sich-in-Szene-setzen (-das im negativen Sinne 'Eventhafte'-) in den Vordergrund gerückt
ist. Auf einmal kriegt Jeder die Möglichkeit, auf einer Bühne mal für fünf Minuten der Held zu sein, fünf Minuten der Star zu sein. Und um der Star zu sein, nimmt man jeden Trend in Kauf. Und die
Sprache ist Medienrummel, die Sprache ist Spektakel - nicht mehr lyrische Inspiration."
De Toys, im WortSpiel-Interview mit DeutschlandRadio Kultur:
WENN LITERATUR ZUM EVENT WIRD (14.3.2000, live aus Berlin)
Düsseldorf hat mich depressiv gemacht. In Berlin war alles anders, das Leben fand direkt vor der eigenen Haustür statt. In Düsseldorf ist dagegen rein gar nichts los. Hier muß man Monate warten, bevor eine interessante Veranstaltung stattfindet. Sehr lange Monate, dunkle Monate sogar im Sommer, in denen man kulturell unterfüttert ist. In dieser Zeit kann man froh sein, wenn man zuhause über eine ungelesene Bibliothek verfügt, um sich die Langeweile auf hohem Niveau zu vertreiben. Und abends geht man des öfteren ins Kino, der Spaziergang dorthin kann dann als Sport verbucht werden. Wer weder gern Filme schaut noch sich für Literatur begeistert, geschweige denn Sport betreiben möchte, hat trotzdem die Möglichkeit, sich von der Tristesse abzulenken, indem er die grüne Achse für Ausflüge nutzt und den Fröschen beim Quaken lauscht, oder indem er sich irgendwo in ein Café in der Altstadt oder am Rheinufer platziert und die Touristen dabei beobachtet, wie sie sich ihre Langeweile mit Fotografieren von Sehenswürdigkeiten vertreiben. Das Fotografieren hat dabei einen doppelten Vorteil: man ist nicht nur mit der Aktion selber beschäftigt, sondern hat für zuhause gleich vorgesorgt. Das Sortieren und Vorführen der Fotos im virtuellen sozialen Freundeskreis sorgt für ein wenig Aufregung. Mit
dem Beantworten von Likes und Kommentaren vergehen schon wieder ein paar trostlose Tage. Und dann gibt es ja auch noch die Sonntage, an denen man in einen Gottesdienst gehen kann. Notfalls auch jeden Sonntag in eine andere Kirche, um möglichst viel Abwechslung beim Zählen der Mosaikfenster zu erreichen. Der Besuch eines Schwimmbads mit Sauna wie zum Beispiel die Münstertherme kann unter der Woche das Schlimmste verhindern. Die Symptome der Depression können recht gut kontrolliert werden. Wenn gar nichts mehr geht, schnappt man sich einen Kugelschreiber und ein herumliegendes Blatt Papier (Klopapier, Bierdeckel und Servietten sind selbstverständlich auch gut geeignet) und dichtet drauf los! Also das Dichten hat bei mir immer ganz gut funktioniert. Es unterdrückt
nicht nur die Sinnlosigkeitsanfälle und Selbstmordgedanken sondern ermöglicht auch neue ekstatische Erkenntnisse über das LEBEN, die einem normalerweise verborgen bleiben. Da reihen sich Buchstaben und Wörter und ganze Sätze so aneinander, daß man auf wirklich andere Gedanken kommt. Bestenfalls wird aus dem geistigen Höhenflug ein Geniestreich, der die gesamte bisherige Literatur auf den Kopf stellt. Dann ist man natürlich auch nach der Vollendung noch mit dem Gedicht beschäftigt. Mit Korrekturfahnen für Zeitschriften und Bücher, mit Vortragsreisen und Lesungen in Literaturhäusern und Buchhandlungen. Wenn das Gedicht in einer überregionalen Tageszeitung erscheinen sollte, hat man noch zusätzlich mit Leserkommentaren zu kämpfen. Es können dann Jahre vergehen, bevor man
das nächste Gedicht gegen die Langeweile schreiben muß. Wenn man natürlich in Eller wohnt, sieht die Situation schon ganz anders aus. Hier bleiben Geniestreiche schlicht unbemerkt. Niemand braucht hier sowas wie Literatur, hier fährt die Straßenbahn ganz ordentlich über die Gumbertstraße zum Gertrudisplatz, das ist literarisch, da braucht es keinerlei poetologische Erläuterungen, um den normalen Alltag mit Geist aufzublasen. In Eller ist alles poetisch. Das ganze Lebensgefühl ist literarisch. Das Wasserschloß und der Ponyhof runden das Bild von der Idylle noch ab. Es gibt in Eller weder Künstler noch Schriftsteller, aber genauso viele Arbeitslose wie in Neukölln. Während die Neuköllner Arbeitslosen der Kreativszene angehören und dadurch rund um die Uhr mit Kreativität beschäftigt werden, handelt es sich bei den Elleraner Arbeitslosen um echte, authentische Arbeitslose. Sie sitzen schon mittags in ihrer Stammkneipe und haben mit Kreativität nichts am Hut. Wenn die Straßenbahn auf der Gumbertstraße vorbeifährt, zünden sie eine Zigarette an und öffnen das nächste Bier. Aber warum ich das alles erzähle: die Düsseldorfer Depression erreicht in Eller nicht nur ihren absoluten Höhepunkt sondern hier herrscht auch die nötige Ruhe für mystische Selbsterfahrungen. Nichts lenkt einen ab. Wer seine Erleuchtung noch nicht gefunden hat, sollte unbedingt nach Eller umziehen. Eller ist eigentlich ein gewaltiger Tempel. Oase der Besinnlichkeit. Unter
den Arbeitslosen befinden sich mittlerweise schon massig spirituelle Lehrer, heimliche Gurus und einige frühvollendete Meister. Sie sitzen in ihren Verstecken und meditieren den ganzen Tag.
Deshalb sind die Bürgersteige in Eller meist hochgeklappt. Auf der einzigen asphaltierten Straße des Bezirks strömt der Berufsverkehr jeden Tag in das Stadtzentrum hinein und wieder aus dem
Stadtzentrum hinaus. Alle Autos müssen durch Eller, nur anhalten tut keiner. In Eller ist einfach nichts los. Wer hier wohnt, ist dem Himmel sehr nahe. Auf dem Feldweg zum Wasserschloß hat man
den Überblick von einem Horizont zum anderen. Fast wie im Bergischen Land. Aber das ist ein anderes Thema. Der Feldweg heißt Monckartzhofweg, aber ist nicht namentlich auf google map verzeichnet.
Ich habe ein Beweisfoto mit
dem Straßenschild hochgeladen, aber das hat nichts geholfen. Der Feldweg ist also ein ultimativer Geheimtip. Hier habe ich einige schöne Gedichte im Gehen geschrieben. Gedichte, die
niemand hier braucht und die niemand vermisst. In Berlin hätte ich all diese Gedichte schon längst irgendwo publiziert (zum Beispiel in der floppy myriapoda) und auf diversen Lesebühnen lautstark vorgetragen. Aber in Düsseldorf - nein, von moderner Literatur hat man hier noch nichts gehört. Hier liest man Heinrich Heine und Heidi Klum. Oder besucht einen Poetry Slam, um die Epigonen von Heine und Heidi live anzuhören. Wer wirklich überhaupt keine Lust auf Literatur hat, ist bei Poetry Slams genau richtig. Hier herrscht der spätpubertäre Klamauk. Eine Stadt wie Düsseldorf braucht Poetry Slams, damit die junge Generation nicht noch depressiver wird. Unterhaltung ist alles, vom Catwalk zur Comedy und zurück. Wer einen Job hat, flaniert in der Freizeit über die Kö. Und wer keinen hat, schreibt eben Gedichte auf Feldwegen. In Eller. In Eller dichtet man schneller. Und fantasiert
manchmal sogar mit praktischem Nutzen: der Park+Rail-Platz an der Sbahn-Haltestelle Eller Süd hat bislang keinen Namen. Zwar gibt es in Düsseldorf einen Schillerplatz und eine Goethestraße, aber
nur im benachbarten Mettmann findet sich eine Nietzschestraße. Warum also nicht den verwahrlosten Parkplatz in Eller Süd einfach NIETZSCHEPLATZ taufen? Und wenn wir schon mit derlei progressiven Spinnereien anfangen, plädiere ich im selben Atemzug für die Ernennung des
namenlosen Platzes hinter dem Heinrich-Heine-Platz zum NAPOLEONPLATZ, denn immerhin
war es vor zweihundert Jahren dessen Verdienst, eine ordentliche Hausnummerierung einzuführen. Das ist doch was! Aber ich fürchte, wer Nietzsche und Napoleon in das heutige Stadtbild noch
nachträglich einfügen möchte, muß lebensmüde sein, jedenfalls wurden meine Vorschläge noch nicht erhört...