Doris Mallasch
WIRKLICHKEITSTRÄUMER
Der Berliner Dichter Tom de Toys in São Paulo am Colégio Humboldt & an der Porto Seguro (Febr.-März 2001)
"echtes leben / echtes leben / hautnah echtes / leben leben" stampfte es aus dem Vortragssaal des Colégio Humboldt anlässlich der
Dichterlesung - aber nicht etwa aus Boxen und Apparaten, sondern aus den Mündern der anwesenden Lyrikliebhaber aller Altersstufen. Wer ist dieser Mann, der honorige Kulturveranstaltungen in
Self-made-Technoschuppen verwandeln kann?
Tom de Toys wird der alternativen Dichterszene Deutschlands zugerechnet. Sein Werk umfasst Zyklen im kaskadenartigen Hölderlinstil ebenso wie Wortspielereien
nach Ernst Jandl und politische Demonstrationslyrik. Er war Betreiber des Literatursalons im Tacheles in Berlin-Mitte und arbeitet sowohl solistisch als auch
gelegentlich mit Musikern zusammen. Den Schülern, die das Deutsche an den deutschen Schulen in Brasilien
oft als ein ungeliebtes, unlebendiges, ja veraltetes Regelwerk erleben, eröffnete er eine Woche lang eine andere Dimension dieser Sprache. Den Höhepunkt seines Aufenthaltes bildete dann eine
abendliche Lesung vor Literaturinteressierten, in der der Künstler ein Spektrum seines Könnens bot: Meditative Stücke aus den 80er Jahren (ZWEIFEL: "ich bin / weder frage noch antwort"),
mitreißende Agit-Prop-Stücke aus den 90er Jahren (EXTASE STATT ELITE: "in deutschland is nix los") sowie aktuelle persiflierende Chansons (ÜBERMENSCHE(L)N: "melanie melanie / der mensch ein engel und ein vieh"), bei denen er sich selbst am Klavier begleitete. Die Gangstarap-Parodie DAS STUDIOSTÜCK wurde tänzerisch von drei Schülern des Colégio Humboldt während der Aufführung spontan im Rap-Tanzstil interpretiert.
Tom de Toys kontrastierte diese intensiven, sehr an der Jugendkultur orientierten Darbietungen mit introvertiert vorgetragenen Gedichten wie AN DIE ENKEL und
dem WIRKLICHKEITS(T)RÄUMER. Der Lyriker thematisiert gesellschaftliche Themen ebenso wie individuelle und zeigt auf, dass beide Bereiche keinen Gegensatz
bilden, sondern unabdingbar zusammengehören. Dort, wo echter Kontakt zwischen Einzelnen entsteht, können auch gesellschaftliche Utopien wachsen. Diese Botschaft war zuvor in fünf
Lesungen bereits bei den Schülern angekommen. Sie verdichtete sich in der abendlichen Lesung ebenso für die anwesenden Zuhörer. Der neue Schulleiter des Colégio Humboldt Peter Beckmann ließ als
Dank an den Künstler die Zuhörer ein De Toysches Gedicht als spontane Gemeinschaftskunst im Chor sprechen.
Die Forderung nach Kontakt zwischen Einzelnen kann am besten beim gemeinsamen Kunstproduzieren erfüllt werden. So wurde die Botschaft des Dichters am Colégio Humboldt sofort in Form eines
Projekts gelebt: Der Raum der abendlichen Lesung war Teil einer von Schülern aufgebauten Ausstellung zum Thema "Lila". Anlässlich des Dichterbesuchs dichteten und konzipierten 120 Schüler des
Colégio Humboldt Werke und Installationen, die unter anderem während einer Exkursion im Botanischen Garten entstanden waren. Der Farbbegriff "Lila" ist im Deutschen und Portugiesischen
gleich und somit ein Wort der Begegnung. Auch die Schüler der Porto Seguro dichteten nach der Dichterlesung zum Thema und werden genauso wie die Schüler der Schweizer Schule mit ihren
Gedichten in einem Buch vertreten sein, das im Berliner G&GN-Verlag herauskommt.
Wenn brasilianische Schüler einen deutschen Dichter wie einen Popstar feiern, kann dies als ein Beitrag zur kulturellen Globalisierung im besten Sinne
verstanden werden. Der Erfolg gibt dem Konzept recht. Das Colégio Humboldt wird seine kulturelle Reihe mit jungen Künstlern aus Deutschland fortsetzen.
Der Künstler war zum Abschluß seiner Tournee (die auch einen Auftritt an der Corcovado-Schule in Rio beinhaltete) dank des Goethe-Instituts in der
Universität mit einer Performance zu erleben, die sich als Weltpremiere seiner frisch erfundenen Quantenlyrik entpuppte.
Im Internet informiert De Toys auf einer Homepage über sein Schaffen...
Der Titel des Berichtes wurde entlehnt vom
22.E.S. "WIRKLICHKEITS(T)RÄUMER"
"In Gebrauchs- wie in Kunstsprachen wird zur Zeit der natürliche, alltägliche, flüchtige, provisorische Ausdruck dem mehr oder minder streng formalisierten
vorgezogen: Rhetorik, Stilistik, selbst Grammatik haben kaum noch normative Funktion, die Sprachverluderung nimmt in der mündlichen wie in der schriftlichen Praxis zu, findet weithin kritiklose
Akzeptanz und wird somit ihrerseits normbildend. (...) Dass auch die Poesie diesen Trend aufnimmt, ist deutlich genug zu erkennen und gilt keineswegs nur für die performativen Sparten von Rap und
Slam. Das aktuelle poetische Sprachdesign gibt sich heute, zumindest im deutschsprachigen Raum, als eine willkürliche, dabei spontane (improvisatorische) Hybridisierung aus Alltagsrede,
Werbesprache, Songtexten und Gruppenidiomen zu erkennen. Ich will diese Tendenz nicht bewerten, doch ich frage mich, ob es das Interesse und die Aufgabe der Poesie sein kann (...) sein sollte,
den heruntergekommenen Status der Alltagssprache zu übernehmen, ihn künstlerisch zu kultivieren und eben dadurch zu rechtfertigen. Gelegenheitslyrik, Plauderlyrik, Gebrauchslyrik,
Verbrauchslyrik, Unterhaltungslyrik, Roadlyrik, Pornolyrik, Institutslyrik, Wettbewerbslyrik scheinen die Lyrikproduktion und den Lyrikbetrieb zu dominieren, und offenkundig bestimmen diese
rezenten lyrischen Sprechweisen sehr weitgehend auch die einschlägigen Rankings, Stipendien- und Preisvergaben im Bereich der Versdichtung. Sprechkunst gegen Sprachkunst: Der improvisierte
Sprechakt überbietet die Geste des Schreibens, mindert sie herab zum Notat. Jede Sprechweise hat ihren Grund und ihre Berechtigung, doch nicht jede ist gleichermassen von künstlerischem Interesse
(...) bei weitem nicht jede behauptet sich auch in der Schrift, in der Sprachform des Gedichts. (...) Auch das kann die Sprache besser wissen, statt bloß besser zu scheitern wie so mancher
Dichter an seinem Gedicht.
Felix Philipp Ingold, in: Lyrikzeitung 18.4.2013 / Nr.80