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* Soma & Seele: atOMe & FrequenZEN *

Das "sOMatoform"-Mini-Memory-Kartenspiel zum Ausdrucken

Antipsychiatrische Abschiedsrede eines Patienten für Dr. med. Wolfram Keller: "LEIBHAFTIGES DENKEN"

"Die Seele ist bedeutend komplizierter und unzugänglicher als der Körper. Sie ist sozusagen die eine Hälfte der Welt, die es nämlich nur insofern gibt, als man sich ihrer bewußt wird. Darum ist die Seele nicht nur ein persönliches, sondern ein Weltproblem, und der Psychiater hat es mit einer ganzen Welt zu tun. (...) In der Lehranalyse muß der Arzt lernen, seine Seele zu erkennen und ernst zu nehmen. Wenn er das nicht kann, lernt es der Patient auch nicht. Damit verliert er aber ein Stück seiner Seele, so wie auch der Arzt das Stück seiner Seele, das er nicht kennen lernte, verloren hat. Es genügt daher nicht, daß der Arzt sich in der Lehranalyse ein Begriffs-System aneignet. Als Analysand muß er realisieren, daß die Analyse ihn selber angeht, daß sie ein Stück wirkliches Leben ist und keine Methode, die man auswendig (in wörtlichem Sinne!) lernen kann." Carl Gustav Jung (1875-1961), 1961 in:
'ERINNERUNGEN, TRÄUME, GEDANKEN'

(Kapitel: "Psychiatrische Tätigkeit")

TWW-FOYER (c) De Toys, 29.1.2011 (12h)
TWW-FOYER (c) De Toys, 29.1.2011 (12h)

Tom de Toys (Patient-Nr.1008955: 14.12.2010-3.2.2011), niedergeschrieben am 28.1.2011 im Zimmer 8.19, vorgetragen auf dem Symposium zum Thema "Psychosomatik zwischen Forschung & Versorgung" am 29.1.2011 nachmittags im TWW-Mehrzwecksaal (Theodor-Wenzel-Werk) anläßlich der Verabschiedung des Chefarztes Herrn Dr.Keller


L E I B H A F T I G E S   D E N K E N
Rede zu Ehren von Dr. Keller


Meine verehrten Damen & Herren Anwesende!
Obwohl auch ich hier im grauen Anzug stehe, wäre es eigentlich authentischer, wenn ich meine Wellness-Klamotten angezogen hätte, so wie Sie vermutlich den typischen Patienten vom hintersten Haus kennen... Nun ist die Katze also aus dem Sack: ich komme zwar auch von der "Front", aber nicht von der Wissenschaftsfront sondern noch schlimmer: VON DER ANDEREN SEITE. Station 8...

Das Wunderbare an dieser Klinik (und ich empfinde das historisch betrachtet wirklich als ein kleines Wunder!) ist allerdings, daß wir uns hier nicht mehr im Krieg befinden: Psychiater gegen Patient, gesund gegen krank, normal gegen verrückt etc.p.p. - die Psychosomatik beweist sich bei uns nicht nur als unglaublich sensibles, interdisziplinäres Zusammenwirken von Körper und Seele, sondern zudem als respektvolles Anerkennen des leidenden Menschen als MENSCH. Und nicht etwa als Monster, das betäubt und versteckt werden muß! Wir haben nicht das tragische Ende von Jack Nicholson im Kuckucksnest zu befürchten, dafür bin ich der lebende Beweis: meine Dienstzeit (als Patient) ist zwar noch nicht gänzlich abgelaufen, aber ich hoffe sehr, nach dieser Rede nicht in einer Zwangsjacke zu landen.

TWW-Mehrzwecksaal 29.1.2011 @ 16:45 Uhr
TWW-Mehrzwecksaal 29.1.2011 @ 16:45 Uhr

Spaß beiseite: ich habe meine Rede mit dem Titel versehen "Leibhaftiges Denken", und zwar im doppelten Sinne (1.Leibhaftiges denken; 2. leibhaftiges Denken), denn ich stehe vor Ihnen als Exemplar der Gattung "somatoforme Störung", soll heißen: organisch alles superduper, Schmerzen trotzdem nicht eingebildet. Und was ich nach 6 Wochen Therapie ansatzweise erkannt habe, ist wie sehr sich mein GEIST von meiner SEELE entfremdet hat, daß mein Körper ersatzweise zusammenbrechen mußte, weil eigentlich meine Seele schreit!
DAS ist eine Erkenntnis, die sich in Lehrbüchern im Grunde kaum vermitteln lässt, weil man sie ähnlich einer mystischen Erfahrung am eigenen Leibe ERFAHREN muß! Wie sich im Laufe der Therapie das Verhältnis zu sich SELBST verändert, manchmal schleichend und manchmal "hammerhart", um es modern zu formulieren. Am Anfang steht oft die verzweifelte Hoffnung, ein Patentrezept für Heilung konsumieren zu können, und ich habe Patienten erlebt, die deshalb nach wenigen Tagen wieder enttäuscht vondannen zogen. Wer aber eine Weile durchhält, erlebt nach und nach eine seltsame Wandlung seiner eigenen Erwartungshaltung: der Kontakt zu den tieferen Schichten der Schmerzen wird hergestellt und der Kopf denkt nicht mehr gegen den Körper sondern beginnt, LEIBHAFTIG zu denken, indem der Gegenstand seines Denkens nicht mehr die Frustration über die Symptome sondern das leibhaftige Gefühl hinter den Schmerzen zeigt. Ist dieser Punkt erstmal erreicht, gibt es kein Zurück: Tränen fließen, Erinnerungen kommen hoch, die Ängste und Sorgen wollen gefühlt werden, der Mensch in dem Schmerzkörper beginnt, sich nach sich SELBST unendlich zu sehnen. Ja, es gleicht einer unendlichen Sehnsucht, weshalb ich die Station 8 auch gerne "Station 8 wie Unendlichkeit" nenne: die Sehnsucht, mit sich selbst Frieden zu schließen, bei sich anzukommen und endlich wieder durchzuatmen. DAS klingt so leicht, beinahe unwissenschaftlich, und ein vermeintlich "gesunder" Mensch könnte behaupten: Ich muß doch nicht bei mir ankommen, ich bin doch sowieso da. Aber wer nach so vielen Jahren oder gar Jahrzehnten Depression oder Anorexie plötzlich erkennt, wie sehr entfremdet und vorallem WARUM er das ist, der ist unendlich dankbar für die Existenz einer Einrichtung, die den Mensch nicht nur beim Wort nimmt, sondern erstrecht bei der Seele und ihrem Leib. Und genau da erweist sich die humanistische Psychologie wirklich als Wissenschaft vom Menschen.
Lieber Herr Keller, ich hatte das Glück, Sie zufällig auf den Fluren zu treffen, sonst hätte ich von dieser Veranstaltung nicht gewußt. Überhaupt drang Ihre Verabschiedung vor einigen Wochen nur als Gerücht bis in die oberen Etagen des letzten Hauses. Ich kann daher natürlich nicht stellvertretend für alle Patienten sprechen, zumal wir ja hier zum Glück als Individuen mit unserer ganz individuellen Geschichte wahrgenommen werden, aber ich erlaube mir, diese einmalige und letzte Gelegenheit zu nutzen, Ihnen zu versichern, daß ich die Dankbarkeit sehr vieler Patienten leibhaftig miterlebt habe und darum von Herzen behaupten kann: hinter mir stehen viele, denen geholfen werden konnte, sozusagen auf der anderen Seite, um im anfänglichen Bild zu bleiben, und wir befinden uns alle im selben Saal, im selben Boot, im Leben. WIR LEBEN! Es tut gut zu wissen, daß es eine Klinik gibt, in der die Menschen ERNST genommen werden, die nach einer langen Odyssee hier stranden.
Möge Ihnen, Herr Dr. Keller, auch noch ein langes und schönes Leben außerhalb der Klinik bevorstehen - jetzt müssen Sie raus, die Therapie ist vorbei! Und vorallem: Sie dürfen sich jetzt "draußen" so ENTSPANNEN, wie wir es hier drinnen Tag für Tag üben! Alles Gute für Sie!


Anmerkung zur autorisierten Abschrift: Kleine Abweichungen vom originalen Faksimile an einigen Textstellen berücksichtigen die spontanen Ergänzungen beim Live-Vortrag!

P.S. Vielen Dank nochmal an alle 13 PflegerInnen & 19 Therapeuten/Ärzte, die mich in der Abteilung "Psychosomatik mit internistischem Schwerpunkt" unglaublich persönlich & sehr individuell betreut haben! ALLE haben mir mit ihrem jeweiligen Charakter geholfen (auch jene, deren Methode mir -natürlich sehr subjektiv gesehen- bis zum Schluss irgendwie etwas suspekt blieb), MICH SELBST teilweise besser zu verstehen, meinen "unvollkommenen" Zustand dort zumindest "selbstgnädig" zu akzeptieren, wo blinde Flecken aus Zeitmangel (oder/und mangelnder innerer Bereitschaft, die mir selbst wie ein blinder Fleck im Weg steht?) NOCH NICHT ausreichend beleuchtet werden konnten, und das Bestmögliche aus den insgesamt 7 Wunderwochen rauszuholen. Die Arbeit an der VERBESSERUNG MEINER VERFASSUNG geht "draußen" weiter, der Schmerz macht zwar auch weiter, aber die Seele ist etwas WEITER & DURCHLÄSSIGER geworden und ich kenne nun einige Tricks & Techniken, wie ich mich heilsamer um mich kümmern kann ;-) Und die enscheidenden Fragen lauten immer wieder in allen Situationen: "WAS MACHT DAS MIT MIR?" und "WAS WÜRDE ICH MIR STATTDESSEN WÜNSCHEN?", um meinen echten Gefühlen auf die Schliche zu kommen anstatt einem schmerzhaften Ereignis traumatisch ausgeliefert zu sein...

TWW-FLUR 6 (c) De Toys, 29.1.11 (13:13h)
TWW-FLUR 6 (c) De Toys, 29.1.11 (13:13h)

 

Aufgrund der zufälligen Begegnung (am 19.1.) mit Dr.Keller ging mein Wunsch (vom 14.1.) völlig unerwarteterweise sogar doppelt und dreifach in Erfüllung: ich konnte mich nicht nur persönlich bedanken sondern sogar im alten Bühnenanzug als spontaner Festredner selber! Eine wunderbare THERAPEUTISCHE ÜBUNG für mich, um die innere Stabilität und äußere Offenheit zu überprüfen. Mehr dazu in den Blogeinträgen am 47.+48.Kliniktag (vom 29.+30.1.)

ZIMMER 8.19 (Station 8) am 29.1.2011 (Theodor-Wenzel-Werk, Zehlendorf/Wannsee)
ZIMMER 8.19 (Station 8) am 29.1.2011 (Theodor-Wenzel-Werk, Zehlendorf/Wannsee)

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