"Man darf die Mehrheit nicht mit der Wahrheit verwechseln."
Jean Cocteau (1889-1963)
"Materielle Sorgen und Abhängigkeiten beeinträchtigen die geistige Freiheit. (...) Die Politik braucht den Schriftsteller, weil er der Gesellschaft Bilder vermittelt, die auch von politischer Relevanz sind. (...) Der Politiker, der die Bedeutung der Literatur real einschätzt, kann von vielem, was sie anbietet, profitieren. (...) Je vielfältiger die Literatur ist, um so größer ist die Chance, daß die Politik zum Nutzen der gesamten Gesellschaft von der Literatur profitiert." Willy Brandt, in:
BRAUCHT DIE POLITIK DEN SCHRIFTSTELLER? (1974)
"Keiner liest kritische bücher, weil das den GEDANKENLOSEN GENUSS der spärlichen freizeit beeinträchtigt. Gelesen wird schnösel- und schundliteratur vom
allerfeinsten, geredet wird über die namen der angeblich angesagten autoren. Die zeitungen recherchieren nicht eigenständig nach kritischer masse, sondern beschweren sich selbstgefällig über die
allgemeine tendenz zur anbiedernden leichten kost."
De Toys, in: VERTRIEB UND VERTRIEBENE (sOMatoform 66, 11.3.2014)
"GEFÄLLIGKEIT verkauft sich besser: das gefesselte Talent, das gegen sich selbst gerichtet ist; die Kunst, mit harmonischen, berechenbaren Reden zu beruhigen und
im Tone guter Kumpanei zu beweisen, daß die Welt und der Mensch mittelmäßig und durchschaubar, ohne Überraschungen, ohne Drohungen und uninteressant seien. (...) Die Schlußfolgerungen sind im
voraus festgelegt; im voraus hat man die Tiefe bemessen, die der Forschung erlaubt ist, die psychologischen Ressorts sind fein säuberlich getrennt, selbst der Stil ist geregelt. Das Publikum
fürchtet keinerlei Überraschung, es kann mit geschlossenen Augen kaufen. Aber die Literatur ist damit tot. (...) Wenn aber das Publikum sich mit dem konkreten Universum identifizierte, dann hätte der Schriftsteller wahrlich über die menschliche Totalität zu schreiben. (...) Plötzlich wäre
die literarische Antinomie der lyrischen Subjektivität und der objektiven Zeugenschaft überwunden. (...) wenn die Literatur sich eines Tages ihres Wesens erfreuen soll, dann wird der
Schriftsteller ohne Klasse, ohne Kollegen, ohne Salons, ohne großartige Ehrungen, ohne Würdelosigkeit in die Welt und unter die Menschen geworfen werden, (...) er wird wissen, daß ihm nicht die
Anbetung des Geistigen zukommt, sondern die Vergeistigung. (...) So würde in einer nicht erstarrten Gesellschaft ohne Klassen und ohne Diktatur die Literatur ganz ihrer selbst bewußt werden:
(...) Selbstverständlich handelt es sich hier um eine Utopie: es ist möglich, eine solche Gesellschaft sich vorzustellen, aber wir verfügen praktisch über kein Mittel, sie zu
verwirklichen."
Jean-Paul Sartre, in: WAS IST LITERATUR? (1950)
HAG–ZYKLUS 2003
1: MASSE (22.12.)
2: MUSE (23.12.)
3: MONSTER (23.12.)
4: MESSUNG (23.12.)
5: MAINSTREAM (23.12.)
6: MINDESTLOHN (24.12.)
7: MuTPRoBe (ORGAN!SCHES SCHLUßLiCHT)
(27.12.)
8: PROFILNEUROTISCHE POESIE (ÜBER DEN AUSGEPRÄGTEN
STIL) (17.2.2014)
9: FRÜHLINGSAHNEN (6.3.2014)
"ich sehe dein gesicht im pumpen meines gläsernen herzens und spüre: alles ist ganz anders. wir sit-Zen im offenen kreis und reden mit dem großen dunklen
quantenmonster, das die welt durchdringt. wir spüren die dunkle tiefe schwingung seiner paranormalen bewußtheit und wissen: diese welt ist nur unendlich, weil der schwere atem des monsters durch
sie hindurchraunt wie ein weitverzweigtes rinnsal mit überschall. die außerirdischen sind nie gelandet, denn sie wohnen parallel zu uns in der zweiten keller-etage DURCH UNS HINDURCH. es gibt
keine treppe in den keller, die treppe sind wir. und dann lernen sie sprechen - mit haut und haar..."
H.H. (3.1.2004)
Herold Himmelfahrt, 23.12.2003
MAINSTREAM
oder all die großen preise
die nur an ganz große dichter
ausgeschüttet werden
eine tradition
der gegenseitigen absegnung
selbstbeweihräucherung
vetternwirtschaft
fiese schmücken sich mit fürsten
großverlage fördern alibis
berühmte werden noch berühmter
reiche baden in der wassernot
von unbestechlichen
bis denen ruhm und ehre
posthum so verliehen wird
daß neue preise ausgerufen werden
neue wettbewerbe ausgelobt
und die verlierer ausgebuht am tage
der beerdigung wenn redakteure
mit pro anschlag gut bezahlten nachrufen
die eigene scheintote heimat füttern
Herold Himmelfahrt, 24.12.2003
MINDESTLOHN
welch ein titel da
staunt selbst der progressivste germanist beim auspacken
des schick getarnten buchgeschenkgutscheins
zu weihnachten ach weihnachten jaja das wörtchen
gibts noch immer ebenso wie gott und geld
das lexikon ist pickepacke voll randvoll mit solchen ungereimtheiten
ich sag dir was das ist hier kein politgedicht
denn politik ist kein gedicht kapiert
ich sitz am rechner denke nach fühl in mich rein und
lasse alle wörter einfach fließen höre wie die zeit verrinnt
wie der moment sich ausdehnt wie das blut
durch den gehörgang tropft im takt im takt sekundentakt
ich glaube meine herzmaschine hat ne störung
ach das geht vorbei is nich so schlimm
kann mal passieren wird bald besser
neee au backe is ne riesenkacke hört nich auf
tropft immer weiter scheiße mir wird eisig kalt
ich packs nich lauf lauf du lauf weiter
nimm den stift aus meiner tasche und papier
und zündhölzer falls sie dir wieder an den kragen wollen
Herold Himmelfahrt, 27.12.2003, 12-18 h
(in Köln c/o Café Storch & Ludwig Museum)
MuTPRoBe
(ORGAN!SCHES SCHLUßLiCHT)
warum nicht ganz am ende
die geschichte ganz von vorne
neu aufrollen ja natürlich
es ist sowieso schon alles restlos
alles viel zu ausführlich gesagt
getan und aufgeschrieben ohne daß
jemand notiz nahm von der notwendigkeit
möglichst wenig mitzuspielen im getriebe
der familie der berufe und der allgemeinen
unterhaltungsindustrie mit ihren
biografischen beschäftigungstherapipien
wenn die zukunft den zeitlosen hirnraum
zur besinnung ruft ein un(ÜBER)hörbares rauschen
durch den leeren tempel fegt und alle
sprache schluckt und nochmal schluckt
und von der einen seite der unendlichkeit
zur andren seite der unendlichkeit
hinüberschallt sich selbst ganz nebenbei
nach einer klitzekleinen ewigkeit verschluckt
und mit der umgestülpten haut des universums
aus der inneren fatamorgana spricht
als wäre nichts passiert
die heimat bleibt ein hohles kissen
für verliebte ausgeschüttelt und geglättet
frisches bettzeug drüber
pünktlich ausgecheckt
der weltlauf läuft noch immer
nur nach plan
ich widersetze mich dem
seelenfressenden kal
-ende-
RW
-ahn
Herold Himmelfahrt, 17.2.2014
PROFILNEUROTISCHE POESIE
(ÜBER DEN AUSGEPRÄGTEN STIL)
die veröffentlichung dieses gedichtes
sagt noch nichts über die bedeutung
des autors oder des gedichtes selbst
dessen wortschatz sich beim verleger
erfolgreich anbiedern konnte so daß
du meine geschätzte leserin hier und
jetzt meine meinung über das weltganze
erfahren kannst was dich natürlich
sehr glücklich macht denn du liebst
nicht nur die lyrik an sich sondern
erstrecht das gefühl an dieser zweit-
schönsten sache der welt wirklich aus
erster hand teilhaben zu können indem
du das vorliegende gedicht liest und
dann deinem freund davon erzählst
weil dich die position die ich als
autor darin vertrete von ganzem
herzen überzeugt wie nichts anderes
auf der welt die wir hier nochmal
erwähnen um deutlich zu machen daß
es sich um weltlyrik vom feinsten
handeln muss insofern wir das feine
wie feinstaub in wörtern vermuten
die dank einiger zeilenumbrüche
wie lyrik aussehen obwohl wir noch
nicht ganz verstehen warum es fast
reimlos verbluten soll aber die
last der verantwortung liegt
selbstredend beim dichter als
einzigen täter und scharlatan
dessen literarischer wahn in
der letzten zeile mit einem
gewaltigen knall zu fall
gebracht wird und seitdem
in der staubigen ecke des
alten bücherregals kauert
und jedem harmlosen leser
mit irrem blick auflauert
denn es erträgt diese
zweidimensionale stille
der gedruckten einsamkeit
nur wenn es von zeit zu
zeit von einem leser
beachtet wird BITTE
LIEBKOS MICH UND
LASS MICH NOCH
EINMAL IN DEINEN
GEDULDIGEN SCHOß
DENN DIE WELT
WIRD IN DEINEN
WARMEN ARMEN
ERST WIRKLICH
SO GROß DAß
SICH MEINE
IDENTITÄT
ALS GE-
DICHT
VER-
RÄT
Herold Himmelfahrt, 6.3.2014
FRÜHLINGSAHNEN
die sonne scheint es ist
zu schön um krieg zu führen
ich beneide alle tiere
die nicht fragen ob
es einen grund für das
vorhandensein des universums gibt
den dichter braucht man nicht
mehr seit die bürger selber reime
schmieden wie weltmeister und sich
gegenseitig stolz belohnen geld
fließt überall wo freiheit nur
ein nettes wort die sonne
scheint es ist zu schön
um krieg zu führen